
Nach Jahrzehnten enger wirtschaftlicher Verflechtung mit Russland hat dessen Invasion der Ukraine im Februar 2022 einen tiefen Bruch verursacht. Sanktionen, politische Spannungen und die zunehmende staatliche Kontrolle westlicher Vermögenswerte in Russland haben nicht nur den Handel einbrechen lassen, sondern eine Welle neuer Streitigkeiten ausgelöst. Russische Behörden und Unternehmen greifen dabei immer häufiger zu extremen juristischen „Gegenmaßnahmen", um sich prozessuale Vorteile zu sichern und ihre Forderungen vor russischen Gerichten durchzusetzen bzw. Verfahren in anderen Foren zu unterbinden.
Eine Schlüsselrolle spielt dabei Artikel 248 der Verfahrensordnung der russischen Arbitrazh-Gerichte (Arbitrazh VerfO). Diese mit dem sog. Lugovoy-Gesetz eingeführte Regelung begründet eine Zuständigkeit russischer Gerichte für Streitigkeiten mit Bezug zu Sanktionen gegen russische Parteien. Russische Gerichte beanspruchen diese Zuständigkeit selbst dann, wenn eigentlich ein internationales Schiedsgericht oder ein ausländisches staatliches Gericht zuständig wäre. Vertragliche Schieds- oder Gerichtsstandsvereinbarungen werden dadurch umgangen. Artikel 248 Arbitrazh VerfO erlaubt es russischen Gerichten zudem, ausländische Verfahren strafbewährt zu untersagen. Die Regelung ist inzwischen juristische Grundlage der Prozessstrategie russischer Parteien in zahlreichen Verfahren geworden und hat den Rahmen für die Beilegung internationaler Streitigkeiten mit Russlandbezug grundlegend verändert.
Erste Abwehrstrategien: Anti-Suit Injunctions
Westliche Unternehmen reagierten auf diese Praxis russischer Unternehmen zunächst häufig mit sog. Anti-Suit Injunctions. Das sind gerichtliche Anordnungen, die einer Partei verbieten, ein Verfahren vor einem unzuständigen Gericht (in diesem Fall: in Russland) einzuleiten oder fortzusetzen. Solche Anordnungen sind insbesondere in England und Wales sowie in den USA weit verbreitet und können bei Vorliegen bestimmter Grundvoraussetzungen von den nationalen Gerichten erlassen werden.
Auch in Deutschland bestehen Abwehrmöglichkeiten, etwa über Verfahren nach § 1032 ZPO, mit denen bis zur Bildung eines Schiedsgerichts von staatlichen Gerichten festgestellt werden kann, dass ein Schiedsverfahren zulässig ist. Das Schiedsverfahren kann auch direkt eingeleitet werden, etwa um die Wirksamkeit der Schiedsklausel feststellen zu lassen oder Ersatz des durch die Verletzung entstandenen Schadens (z.B. die zum Zweck der Verteidigung in einem russischen Verfahren entstandenen Rechtsanwaltskosten oder im Zuge der Vollstreckung eines russischen Urteils entstandene Verluste) zu fordern.
Weitere Eskalationsstufen: Anti-Anti-Suit Injunctions und andere Gegenmaßnahmen
Diese Strategien galten lange als wirksam. Im vergangenen Jahr hat sich die Situation dann aber nochmals verschärft. Gestützt von russischen Gerichten verfolgen russische Unternehmen zunehmend aggressive Abwehrstrategien, u.a.:
- Weite Auslegung von Art. 248 Arbitrazh VerfO: Die Anwendung der Vorschrift wird nicht mehr nur auf unmittelbar von Sanktionen betroffenen Unternehmen beschränkt; es genügen „restriktive Maßnahmen“ und (angeblich) nachteilige Auswirkungen auf russische Parteien. Dabei kann schon ein einfacher Bezug zu einem der von Russland als „unfreundliche Staaten" eingestuften Jurisdiktionen ausreichend sein.
- Einfrieren von Vermögenswerten: Russische Gerichte ordnen im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes zunehmend das Einfrieren westlicher Vermögenswerte an.
- Haftungserweiterung auf Konzernunternehmen: In mehreren Fällen wurde auch versucht, ausländische Muttergesellschaften oder andere verbundene Unternehmen für angebliche Pflichtverletzungen russischer Tochtergesellschaften haftbar zu machen.
Besonders brisant ist die Praxis sog. Anti-Anti Suit Injunctions: Russische Gerichte untersagen westlichen Parteien unter Androhung drakonischer Strafzahlungen (teilweise im Milliardenbereich), Anti-Suit Injunctions im Ausland zu beantragen oder die Aufhebung bereits erlassener Anordnungen zu erwirken.
Ein öffentlich bekanntes Beispiel hierfür ist der Fall der deutschen Bank UniCredit. Diese hatte zunächst erfolgreich vor den englischen Gerichten eine Anti-Suit Injunction erwirkt, die es dem russischen Chemieunternehmen RusChemAlliance untersagte, unter Verstoß gegen eine vertraglich vereinbarte Schiedsklausel vor russischen Gerichten Verfahren gegen UniCredit einzuleiten. Anstatt dieser Anordnung folge zu leisten, hat der russische Chemieriese dann aber seinerseits eine Anordnung von russischen Gerichten erwirkt, die UniCredit unter Androhung eines Zwangsgeldes in Höhe von EUR 250 Millionen dazu verpflichtete, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um die englische Anti-Suit Injunction aufheben zu lassen.
Ähnlich erging es dem österreichischen Energiekonzern OMV: Am 22. Oktober 2025 hat ein russisches Gericht ihr aufgegeben, ein SCC-Schiedsverfahren, das OMV gegen Unternehmen der Gazprom-Gruppe eingeleitet hatte, zu beenden.
Ebenfalls im Oktober 2025 hat ein russisches Gericht Google Irland unter Androhung einer Strafzahlung in Höhe von USD 814 Millionen auferlegt, Schiedsverfahren gegen das ehemals verbundene Unternehmen OOO Google (Google Russland) nicht weiterzuverfolgen.
Neue Dimensionen: Verfahren gegen Rechtsanwält:innen und Schiedsrichter:innen
In den letzten Monaten ist die Eskalation weiter vorangeschritten. Ziel der russischen Verfahren sind nun nicht mehr nur die Parteien selbst; russische Behörden gehen inzwischen auch gegen Rechtsanwält:innen sowie Schiedsrichter:innen vor, die an den streitbefangenen Verfahren beteiligt sind. Der Konflikt wird mit dieser weiteren Eskalation auf die persönliche Ebene von Verfahrensbeteiligten ausgedehnt, zweifelsohne, um eine einschüchternde Wirkung zu erzielen und die Rechtsdurchsetzung so weiter zu erschweren.
So hat etwa das Moskauer Arbitrazh-Gericht im September dauerhaft eine Anti-Suit Injunction bestätigt, die sich auf ein von Wintershall Dea unter dem Energiecharta-Vertrag eingeleitetes Investitionsschiedsverfahren gegen Russland bezieht und dessen Fortführung unter Androhung eines Zwangsgeldes in Höhe von EUR 7,5 Milliarden untersagt. Die Verfügung richtet sich nicht nur gegen Wintershall Dea, sondern ausdrücklich auch gegen deren Prozessvertreter:innen und die Mitglieder des Schiedsgerichts.
Unternehmen sollten möglichst frühzeitig aktiv werden und eine ganzheitliche, jurisdiktionsübergreifende Strategie entwickeln.
Praktische Empfehlungen
Unternehmen sollten möglichst frühzeitig aktiv werden und eine ganzheitliche, jurisdiktionsübergreifende Strategie entwickeln, um ihre Rechte zu schützen und die diversen damit nunmehr inhärent einhergehende Risiken zu mitigieren. Idealerweise sollte mit der rechtlichen Vorbereitung begonnen werden, bevor eine konkrete Streitigkeit anhängig gemacht wird, gleich von welcher Seite.
Ein entscheidender Faktor ist dabei inwieweit Vermögenswerte (aktuell oder zukünftig geplant) in Russland vorhanden sind. Soweit möglich sollten geschäftliche Kontakte im Hinblick auf potenzielle Streitigkeiten und den Schutz von Vermögenswerten, inkl. IP, Forderungen und Konten, sorgfältig außerhalb Russlands strukturiert werden.
Trotz der jüngsten Entwicklungen wird es weiterhin regelmäßig ratsam sein, Zuständigkeiten früh zu klären und die hierfür eigentlich zuständigen (Schieds-)Gerichte mit dem Streitgegenstand zu befassen. Auch eine enge Abstimmung mit Behörden, Versicherern und internationalen Partner ist dringend zu empfehlen. Angesichts der jüngsten Eskalation ist die Streitbeilegung nicht mehr nur Sache der betroffenen Unternehmen; auch die Staatengemeinschaft ist gehalten, sich noch stärker einzubringen, um rechtsstaatliche Grundprinzipien zu verteidigen.
Schließlich zeigen die Entwicklungen im letzten Jahr, dass es sich um einen sehr dynamischen Bereich handelt und ein laufendes Monitoring russischer Gerichtsurteile, Gesetzesänderungen und Prozesstaktiken unerlässlich ist.
Arne Fuchs, LL.M. (GWU)
leitet die globale Praxisgruppe für Schiedsverfahren bei Ashurst LLP. Er berät Unternehmen weltweit zu internationalen Streitigkeiten, auch in Bezug auf Streitigkeiten mit Russlandbezug und Völkerrecht.
Katrine Tvede
ist Senior Associate im Dispute Resolution Team von Ashurst LLP und auf dem Gebiet der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit und des Völkerrechts tätig.

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