Dr. Patricia Nacimiento & Dr. Lara Panosch 

(Herbert Smith Freehills)

Menschenrechte als Grundlage für Klimaschutz

Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegen die Schweiz

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Mit Entscheidung vom 09. April 2024 (53600/20) hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erstmalig einer Klage auf Klimaschutz stattgegeben: Er hat einer Schweizer Vereinigung Recht gegeben, die ihr Heimatland wegen unzureichender Maßnahmen gegen den Klimawandel verklagt hatte.  

Allgemeiner Hintergrund

Der Verein „Klimaseniorinnen Schweiz“, der erfolgreich vor dem EGMR gegen die Schweiz geklagt hat, ist eine Non-Profit-Vereinigung von über 2.000 Schweizer Frauen, die mehrheitlich über 70 Jahre alt sind. Der Verein wurde gegründet, da ältere Menschen, insbesondere Frauen, stärker von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen seien. Ziel des Vereins ist es, für einen effektiven Klimaschutz zu sorgen, nicht nur in eigenem Interesse, sondern auch für die allgemeine Bevölkerung und insbesondere für die jüngeren Generationen.

Im Jahr 2016 wandte sich der Verein zunächst an die nationalen Behörden, danach an das Bundesverwaltungsgericht in St. Gallen (2017) und schließlich an das Schweizerische Bundesgericht in Lausanne (2019), um gegen die Schweiz vorzugehen. Nachdem das Vorhaben auf allen Instanzen erfolglos blieb, wandten sich der Verein als solcher sowie vier Individualklägerinnen zuletzt an den EGMR in Straßburg – diesmal mit Erfolg.

Zulässigkeitsproblematik – Opfereigenschaft

Ein Schwerpunkt der Prüfung war die Frage der Klagebefugnis des Vereins. Um vor dem EGMR klagen zu können, muss eine besondere eigene Betroffenheit i.S.d. Art. 34 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), die sog. Opfereigenschaft, nachgewiesen werden. Dies ist erforderlich, um Popularklagen zu vermeiden, da es nicht die Aufgabe des EGMR sein soll, abstrakte Feststellungen zu treffen, sondern im konkreten Einzelfall zu prüfen, ob Rechte aus der Konvention gegenüber dem Beschwerdeführer verletzt wurden. Den vier Individualklägerinnen gelang dieser Nachweis – im Gegensatz zum Verein Klimaseniorinnen Schweiz – nicht.

Obwohl der Gerichtshof Verbänden in der Regel keine Opfereigenschaft zuspricht, durfte der Verein der Klimaseniorinnen Schweiz als solcher im Namen all derjenigen klagen, die in ihrem Heimatstaat, der Schweiz, nachteilig vom Klimawandel betroffen sind. Dafür nahm der EGMR eine sorgfältige Bewertung der konkreten Umstände des Einzelfalls vor, bei welcher u.a. der Zweck des Vereins, sein gemeinnütziger Charakter, die spezielle Tätigkeit im betreffenden Hoheitsgebiet und seine Mitgliederzahl und Repräsentativität miteinbezogen wurden. Laut EGMR müsse der Opferbegriff auch im Lichte der Bedingungen der heutigen Gesellschaft ausgelegt werden. Der Klimawandel sei ein gemeinsames Anliegen der Menschheit, dessen Lasten zwischen den Generationen verteilt werden müssten, sodass es im Zusammenhang mit dem Klimawandel erforderlich sei, Verbänden eine Klagebefugnis zuzubilligen.

Im Ergebnis war die Kammer aufgrund der Besonderheiten des Einzelfalls davon überzeugt, dass der Verein qualifiziert sei, im Namen all derer zu klagen, die behaupten, durch die spezifischen Bedrohungen und nachteiligen Auswirkungen des Klimawandels in ihren Rechten auf ihr Leben, ihre Gesundheit, ihr Wohlbefinden und ihre Lebensqualität, wie sie von der EMRK geschützt sind, beeinträchtigt zu sein. Ferner hat der EGMR anerkannt, dass der Verband im zugrundliegenden Fall auch in Bezug auf seine Beschwerde über den fehlenden Zugang zu einem Gericht die Opfereigenschaft innehat.

Bei den vier Individualklägerinnen verneinte der Gerichtshof die Opfereigenschaft hingegen. Zwar seien die Klägerinnen durch ihr Alter und ihre körperliche Verfassung besonders von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen; jedoch könnten sie sich durch persönliche Maßnahmen daran anpassen, sodass kein hinreichend dringendes Bedürfnis nach individuellem Schutz bestehe und die erforderliche Schwelle der Betroffenheit nicht erreicht sei.

Verletzung von Art. 6 und Art. 8 EMRK

Inhaltlich machte die Kammer zunächst deutlich, dass das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art. 8 EMRK eine positive Verpflichtung der Staaten begründe, einen wirksamen Schutz für Leben und Gesundheit zu gewährleisten, wozu insbesondere der Erlass von entsprechenden rechtsverwirklichenden Vorschriften gehöre. Der Gerichtshof führte aus, dass die Beeinträchtigung von Rechten der Konvention durch den Klimawandel, angesichts der wissenschaftlichen Erkenntnisse, möglich und die Bekämpfung nachteiliger Auswirkungen des Klimawandels dringend erforderlich sei. Insbesondere durch die Schwere der Folgen des Klimawandels, der ernsten Gefahr dessen Irreversibilität und die Anerkennung eines Zusammenhangs zwischen den nachteiligen Auswirkungen des Klimawandels und der Wahrnehmung der Menschenrechte sei es gerechtfertigt, dem Klimaschutz bei der Abwägung aller konkurrierenden Erwägungen ein erhebliches Gewicht zuzusprechen.

Der Gerichtshof leitet aus Art. 8 EMRK in diesem Sinne „ein Recht des Einzelnen auf wirksamen Schutz durch die staatlichen Behörden vor schwerwiegenden nachteiligen Auswirkungen auf sein Leben, seine Gesundheit, sein Wohlergehen und seine Lebensqualität ab, die sich aus den schädlichen Auswirkungen und Risiken des Klimawandels ergeben“.[1] Damit die Vertragsstaaten dieses Recht hinreichend gewähren, müssten sie die erforderlichen Regelungen und Maßnahmen treffen, um den Klimawandel einzudämmen, insbesondere Treibhausgasemissionen einzusparen und den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur von maximal 1,5 Grad Celsius einzuhalten.

Bezüglich der Schweiz als beklagten Vertragsstaates kam die Kammer zu der Überzeugung, dass die bisherigen Maßnahmen Defizite aufwiesen und es vor allem versäumt worden sei, nationale Höchstgrenzen für Treibhausgasemissionen oder den CO2-Ausstoß zu schaffen. Auch die Einhaltung ihrer Ziele zur Verringerung der Treibhausgasemissionen sei der Schweiz in der Vergangenheit nicht gelungen. Durch das Versäumnis, rechtzeitig einen entsprechenden Rechts- und Verwaltungsrahmen zu schaffen, habe die Schweiz ihren Ermessenspielraum überschritten und abschließend ihre positive Verpflichtung aus Art. 8 EMRK verletzt.

Auch das Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 6 EMRK wurde nach Ansicht des Gerichtshofes verletzt, indem die Schweizer Gerichte Klagen des Verbands als unzulässig abgewiesen haben. Die inländischen Gerichte hätten sich nicht ernsthaft mit der Klage des Vereins befasst und die Berücksichtigung wissenschaftlicher Beweise für den Klimawandel versäumt, so die Kammer. Dabei käme den nationalen Gerichten bei Rechtstreitigkeiten im Zusammenhang mit dem Klimawandel – auch weiterhin – eine besondere Verantwortung zu, da der Zugang zur Justiz auch in diesem Bereich zu gewährleisten sei.

Das neue richtungsweisende Urteil des EGMR zeigt, dass Vertragsstaaten ihre globale Verantwortung bezüglich des Klimaschutzes ernst nehmen müssen.

Der Gerichtshof ließ offen, welche konkreten Maßnahmen die Schweiz – wie ggf. auch andere Staaten, die der EGMR-Jurisdiktion unterliegen – künftig zur Verbesserung des Klimaschutzes ergreifen soll. Die Entscheidung darüber soll angesichts ihrer Komplexität der Schweizer Regierung überlassen werden. Ob die Maßnahmen ausreichen, soll vom Ministerkomitee als oberstes Entscheidungsorgan des Europarates kontrolliert werden.

Abweichende Entscheidung in Parallelklagen

Erfolglos blieben mit Urteilen ebenfalls vom 09. April 2024 jedoch die Klimaklage der sechs portugiesischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Fall von „Duarte Agostinho und Andere gegen Portugal und 32 andere Staaten (39371/20) sowie die Klimaklage des ehemaligen Bürgermeisters der französischen Küstengemeinde Grande-Synthe, Damien Carême, im Fall von „Carême gegen Frankreich (7189/21), die sich beide ebenfalls auf die Auswirkungen des Klimawandels stützten. Während der Fall von „Duarte Agostinho und Anderen einerseits mangels Erschöpfung des nationalen Rechtswegs in Bezug auf Portugal als Heimatstaat und andererseits mangels extraterritorialer Zuständigkeit für die 32 anderen beklagten Staaten als insgesamt unzulässig abgewiesen wurde, konnte der ehemalige Bürgermeister im Fall von „Carême seine Opfereigenschaft nicht ausreichend darlegen, da die Auswirkungen des Klimawandels in seinem konkreten Fall nur hypothetisch seien.

Fazit

Abschließend ist festzuhalten, dass die Besonderheit von Klimaklagen im Unterschied zu klassischen Umweltfällen darin liegt, dass der Klimawandel kein lokales Umweltproblem ist, welches auf eine einzige Ursache zurückgeführt werden kann, sondern ein komplexes globales Problem darstellt. Das neue richtungsweisende Urteil des EGMR zeigt, dass Vertragsstaaten ihre globale Verantwortung bezüglich des Klimaschutzes ernst nehmen müssen und sich dieser auch in Bezug auf menschenrechtliche Belange nicht entziehen können. In diesem Zusammenhang wirkt sich die rechtliche und politische Bedeutung des Urteils auf alle Mitgliedstaaten der EMRK aus und könnte auch für Klimaklagen vor nationalen Gerichten ein Präzedenzfall werden.

Dr. Patricia Nacimiento

ist Partnerin bei Herbert Smith Freehills in Frankfurt a.M. und leitet die deutsche Praxisgruppe Dispute Resolution sowie das EMEA-Team für International Arbitration. Sie ist auf Rechtsstreitigkeiten spezialisiert und hat einen besonderen Schwerpunkt in der Schiedsgerichtsbarkeit und der alternativen Streitbeilegung, einschließlich Mediation.

​Dr. Lara Panosch

ist Associate im Bereich Dispute Resolution bei Herbert Smith Freehills in Frankfurt a.M. Lara Panosch fokussiert sich auf die Beilegung von internationalen Streitigkeiten, insbesondere im Bereich der Handels- und Investitionsschiedsverfahren sowie des Völkerrechts (Menschenrechte).

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[1] Vgl. Verein Klimaseniorinnen Schweiz gegen Schweiz, EGMR Urteil vom 09. April 2024, 53600/20, Rn. 519.

Die geplante Reform des deutschen Schiedsverfahrensrechts
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