Susanne Schwalb
(CMS Hasche Sigle)

Lieferbeziehungen in Zeiten der Krise

Wo endet die Pflicht zur Vertragstreue?



Die COVID-19-Pandemie, der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, hohe Inflationsraten, der Israel-Gaza Konflikt, die Blockade des Suezkanals – diese und weitere Krisen der letzten Jahre haben die Welt in Atem gehalten und auch die Akteure im grenzüberschreitenden Warenverkehr oftmals vor unbekannte juristische Voraussetzungen gestellt: Was gilt, wenn das Unvorhergesehene passiert? Die gesetzlichen Regelungen für (Liefer-)Verträge im deutschen Recht werden oftmals als unzureichend empfunden, um interessengerechte Lösungen für die aktuellen Herausforderungen zu finden. Spätestens jetzt könnte es an der Zeit sein, über zusätzliche vertragliche Regelungen nachzudenken, um Verträge krisenfest zu gestalten.

In der aktuellen Diskussion über Disruptionen in Lieferbeziehungen ist häufig die Rede von „Force Majeure“, wonach Parteien im Falle höherer Gewalt von ihren vertraglichen Verpflichtungen befreit werden können. Im deutschen Gesetzesrecht gibt es diese Rechtsfigur für Lieferverträge jedoch nicht. Im Falle von Störungen in der Lieferkette aufgrund von Naturkatastrophen, kriegerischen Auseinandersetzungen oder einer Pandemie gilt für Lieferverträge, die deutschem Recht unterliegen, zunächst der Grundsatz „pacta sunt servanda“ – Verträge sind einzuhalten. Nur unter sehr engen Voraussetzungen sieht das deutsche Recht eine Möglichkeit zur Korrektur der von den Parteien geschlossenen Vereinbarung vor, etwa wenn die Leistung in Folge von Disruptionen in der Lieferkette gänzlich unmöglich oder nur unter grob unverhältnismäßigem Aufwand zu erbringen ist, oder wenn sich das von den Parteien intendierte vertragliche Gleichgewicht durch ein unvorhergesehenes Ereignis unzumutbar verschiebt. Für alle sonstigen Fälle unvorhersehbarer Leistungsstörungen oder Disruptionen, die unterhalb dieser hohen Schwelle bleiben, empfehlen sich daher vertragliche Regelungen, um interessengerechte Lösungen zu ermöglichen.

Höhere Gewalt – die gesetzlichen Regelungen in Deutschland

Nach deutschem Gesetzesrecht kann sich ein Schuldner grundsätzlich nicht auf höhere Gewalt berufen, um von seiner Leistungspflicht befreit zu werden. Gesetzliche Ausnahmen gibt es nur in engen Grenzen, namentlich in den Fällen der „echten“ oder „faktischen“ Unmöglichkeit sowie bei einem „Wegfall der Geschäftsgrundlage“.

Ein Fall der „echten“ Unmöglichkeit liegt vor, wenn infolge des Aktes höherer Gewalt ein dauerhaftes, unüberwindbares Leistungshindernis vorliegt. Das Leistungshindernis kann dabei tatsächlicher oder rechtlicher Natur sein. Nur ausnahmsweise kann auch ein bloß vorübergehendes Leistungshindernis die dauerhafte Unmöglichkeit einer Leistungspflicht zur Folge haben. Dies setzt voraus, dass zur Zeit des Eintritts des Hindernisses dessen Behebung nicht absehbar und ein weiteres Zuwarten den Parteien, insbesondere dem Gläubiger, nicht zumutbar ist. Wenn die Erfüllung des Vertrages durch den Ausbruch eines Krieges verhindert wird, dürfte diese Voraussetzung erfüllt sein. Das Gleiche dürfte für Sanktionen und Importverbote gelten, sofern ihre Aufhebung nicht alsbald zu erwarten ist, und zwar selbst dann, wenn die Sanktion oder das Verbot noch vor Eintritt der Fälligkeit der in Rede stehenden Leistung wieder aufgehoben werden, solange dies überraschend kommt.

Hiervon abzugrenzen sind Fälle der sog. faktischen Unmöglichkeit, in denen eine Beseitigung des Leistungshindernisses zwar theoretisch möglich, aber derart unwirtschaftlich ist, dass sie von keinem vernünftigen Gläubiger zu erwarten ist. Für ein Leistungsverweigerungsrecht wegen faktischer Unmöglichkeit genügt allerdings nicht jeder unvorhergesehene Mehraufwand. Erforderlich ist vielmehr ein grobes Missverhältnis zwischen dem Aufwand, den der Schuldner zur Erbringung der Leistung betreiben muss, und dem Interesse, dass der Gläubiger am Erhalt der Leistung hat. Denkbare Beispiele für eine solche faktische Unmöglichkeit können erheblich verlängerte oder verteuerte Transportwege sein, die wegen einer Blockade oder Gefährdung der ursprünglichen Route notwendig werden. Dagegen dürften „nur“ gestiegene Beschaffungskosten eines Lieferanten für einen Fall der faktischen Unmöglichkeit in der Regel nicht ausreichen, da mit den daraus folgenden Preissteigerungen auch das Interesse des Gläubigers an der Leistung steigt und es somit häufig an einem (groben) Missverhältnis fehlt.

Schließlich können unvorhersehbare Ereignisse höherer Gewalt unter dem Gesichtspunkt „Wegfall der Geschäftsgrundlage“ zu einem Vertragsanpassungs- oder Rücktrittsrecht führen. Dies erfordert, dass sich Umstände, die Grundlage des Vertrages waren, so schwerwiegend und unvorhersehbar geändert haben, dass den Parteien das Festhalten am unveränderten Vertrag nicht zugemutet werden kann. Anerkannte Fallgruppen eines (möglichen) Wegfalls der Geschäftsgrundlage sind Kriege, Embargos, Pandemien und Hyperinflation. Grundsätzlich hat ein Wegfall der Geschäftsgrundlage zunächst ein Anpassungsrecht im Hinblick auf den in Rede stehenden Vertrag zur Folge. Sofern eine solche Anpassung nicht möglich oder zumutbar ist, kann die benachteiligte Partei vom Vertrag zurücktreten.

Insgesamt ist die deutsche Rechtsprechung bei der Annahme einer Leistungsbefreiung wegen Unmöglichkeit oder Wegfalls der Geschäftsgrundlage sehr zurückhaltend. So haben betroffene Parteien in Streitigkeiten aufgrund der COVID-19-Pandemie zwar vermehrt einen (vermeintlichen) Wegfall der Geschäftsgrundlage angeführt; ein Recht auf Vertragsanpassung oder gar Rücktritt wurde aber nur selten zugesprochen. In Streitigkeiten aufgrund der aktuellen Krisensituationen ist mit derselben Zurückhaltung der deutschen Gerichte zu rechnen.

Bloße Leistungsverzögerungen begründen in aller Regel von vornherein kein Recht, die Leistung zu verweigern. Vielmehr können solche Verzögerungen einen Anspruch auf Schadensersatz begründen, sofern der Schuldner die Verzögerung zu vertreten hat. Dies wird jedoch bei unvorhersehbaren Akten höherer Gewalt meist nicht der Fall sein.

Force Majeure- und Hardship-Klauseln – Best Practice in der Vertragsgestaltung?

Da die genannten gesetzlichen Regelungen häufig als unzureichend empfunden werden, enthalten viele Lieferverträge sog. Force Majeure- und/oder Hardship-Klauseln. Während Force Majeure-Klauseln Fälle regeln, in denen die Leistung infolge höherer Gewalt unmöglich geworden ist, erfassen Hardship-Klauseln diejenigen Fälle, in denen die Leistungserbringung zwar noch möglich, in unveränderter Form dem Schuldner aber unzumutbar geworden ist.

Beide Klausel-Typen erfordern den Eintritt eines unvorhersehbaren, unvermeidbaren oder außergewöhnlichen Umstands oder Ereignisses, welches kausal für die Leistungsstörung ist und zu einer unmittelbaren Betroffenheit der belasteten Partei führt. Zudem setzen beide Klauseln regelmäßig voraus, dass die belastete Partei nicht das Risiko für den Eintritt des Ereignisses übernommen hat, welches zur Leistungsstörung geführt hat. Unterschiede gibt es insbesondere im Hinblick auf die vereinbarten Rechtsfolgen: Während Force Majeure-Klauseln häufig die dauerhafte oder vorübergehende Befreiung der betreffenden Partei von ihrer Leistungspflicht oder etwaigen Sekundäransprüchen zur Folge haben, zielen Hardship-Klauseln auf die Wiederherstellung des wirtschaftlichen Gleichgewichts ab, etwa indem sie Nachverhandlungsrechte und -pflichten oder eine (schieds-)gerichtliche Anpassung des Vertrags anordnen.

Force Majeure-Klauseln enthalten in der Regel zunächst eine Definition der höheren Gewalt, aus der sich ergibt, welche Ereignisse nach dem Verständnis der Parteien von der Klausel umfasst sein sollen. Die Definition kann dabei eng ausgestaltet sein, indem sie die erfassten Ereignisse abschließend aufzählt, oder weit gefasst werden, indem sie zusätzlich oder anstelle einer (beispielhaften) Aufzählung eine abstrakte Definition des Begriffs der höheren Gewalt enthält. Voraussetzung für die Annahme höherer Gewalt ist dabei insbesondere, dass das Ereignis nicht der Risikosphäre einer Vertragspartei zugeordnet werden kann, sondern von außen auf die Lebensverhältnisse der Allgemeinheit oder einer unbestimmten Vielzahl von Personen einwirkt. Gerichtlich bestätigte Fälle von höherer Gewalt sind etwa Kriege, innere Unruhen, Naturkatastrophen und Handelsembargos. Dagegen werden Geldwert- und Preisschwankungen typischerweise nicht vom Begriff der höheren Gewalt erfasst. Sofern die Parteien solche Fälle einbeziehen möchten, sollte daher eine explizite Nennung als Regelbeispiel erfolgen.

Praktisch relevante Hürden für die Annahme höherer Gewalt sind immer wieder der Nachweis einer konkreten Betroffenheit der belasteten Partei durch das externe Ereignis sowie dessen Unvorhersehbarkeit. An der nötigen Betroffenheit fehlt es regelmäßig, wenn notwendige Produkte und Materialien anderweitig beschafft werden können. Im Hinblick auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine stellen beispielsweise einzelne deutsche Industrie- und Handelskammern eine „Bescheinigung Russland-Ukraine-Konflikt“ aus. Solche Bescheinigungen sollen Unternehmen dabei helfen, die externe Ausgangstatsache in Form des Kriegs gegen die Ukraine zu belegen. Die konkreten Folgen für das individuelle Vertragsverhältnis zwischen den Parteien sind damit aber noch nicht dargelegt.

Auch die Unvorhersehbarkeit stellt betroffene Unternehmen häufig vor Probleme. Diese wird in aller Regel aus der ex-ante-Perspektive beurteilt. Dies zeigt sich am Beispiel der westlichen Sanktionen gegen Russland infolge des Angriffs auf die Ukraine: Während bei den ersten beiden Sanktionspaketen zu Beginn des Angriffs eine Unvorhersehbarkeit noch bejaht werden kann, wird sie bei späteren Sanktionspaketen mit steigender Wahrscheinlichkeit zu verneinen sein, da aufgrund der vorhergehenden Sanktionspakete bereits mit der Möglichkeit weiterer Sanktionen zu rechnen war.

Bei Hardship-Klauseln tritt an die Stelle der höheren Gewalt der Begriff des Härtefalls. Dieser ist häufig etwas allgemeiner als ein Ereignis definiert, das außerhalb der Kontrolle der belasteten Partei liegt, vernünftigerweise nicht vorhergesehen werden konnte und die weitere Erfüllung des (unveränderten) Vertrags für die belastete Partei unzumutbar macht.

Force Majeure- und Hardship-Klauseln können bei Lieferverträgen, die deutschem Recht unterliegen, grundsätzlich auch in allgemeinen Geschäftsbedingungen vereinbart werden. Hierbei ist jedoch besondere Sorgfalt bei der präzisen Definition der höheren Gewalt angezeigt.

– Rechtsanwältin Susanne Schwalb   

Nach der Definition des Begriffs der höheren Gewalt bzw. des Härtefalls sollte die Force Majeure- bzw. Hardship-Klausel die Rechtsfolgen festlegen, welche die Parteien an den Eintritt der erfassten Ereignisse knüpfen wollen. Häufig sind darunter einzelne oder mehrere der folgenden Vereinbarungen:

  • vollständige oder teilweise Befreiung von den Leistungspflichten beider Parteien,
  • Kündigungsrecht beider Parteien, sofern das Ereignis andauert – häufig in Verbindung mit einer Kompensation für bereits erbrachte Leistungen in Form von Pauschalen oder einer anteiligen Vergütung,
  • Pflichten beider Parteien, einer Vertragsanpassung zuzustimmen, um insbesondere bei langfristigen Lieferbeziehungen eine weitere Zusammenarbeit sicherzustellen,
  • Teilung der entstehenden Mehrkosten, wobei in der Regel das Bestehen eines Versicherungsschutzes zu berücksichtigen sein wird, und/oder
  • Anzeige- oder Schadensminderungspflichten.

Force Majeure- und Hardship-Klauseln können bei Lieferverträgen, die deutschem Recht unterliegen, grundsätzlich auch in allgemeinen Geschäftsbedingungen vereinbart werden. Hierbei ist jedoch besondere Sorgfalt bei der präzisen Definition der höheren Gewalt angezeigt, damit die Klausel klar verständlich ist und somit dem AGB-rechtlichen Transparenzgebot standhält. Auf Rechtsfolgenseite ist insbesondere zu beachten, dass Klauseln, deren Folgen für den Vertragspartner überraschend sind oder diesen unangemessen benachteiligen, von einem Gericht für unwirksam erklärt werden können.

ICC Höhere-Gewalt-Klauseln

In 2020 hat ICC Germany eine deutsche Version der „ICC Force Majeure and Hardship Clauses 2020“ veröffentlicht, die kostenfrei als PDF heruntergeladen werden kann. 

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Gerichtliche Entscheidungen zu der Frage, unter welchen Voraussetzungen die COVID-19-Pandemie oder der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine für betroffene Lieferverträge, die deutschem Recht unterliegen, einen Fall der höheren Gewalt oder einen Härtefall darstellen, gibt es bislang kaum. Zum einen dürften viele Vertragsparteien ein Interesse daran haben, gerichtliche Auseinandersetzungen möglichst zu vermeiden, um langfristige Lieferbeziehungen nicht zu gefährden. Zum anderen enthalten die relevanten Lieferverträge häufig eine Schiedsklausel, sodass etwaige Streitigkeiten nicht in einem öffentlichen Gerichtsverfahren ausgetragen werden.

Zur ersten Orientierung für eine mögliche Formulierung von Force Majeure- und Hardship-Klauseln mögen die in der Praxis häufig verwendeten Musterklauseln der Internationalen Handelskammer (International Chamber of Commerce – ICC) dienen. Die Klauseln sind in einer Lang- und einer Kurzfassung verfügbar und ermöglichen auch eine individuelle Anpassung durch die Parteien. Eine solche Anpassung wird in vielen Fällen sinnvoll sein, um den konkreten Bedürfnissen der Parteien gerecht zu werden.

Hohe Inflation als weitere Herausforderung in bestehenden Vertragsbeziehungen

Im Rahmen der Anwendung von Hardship-Klauseln stellt sich die Frage, ob auch Inflation und deren Folgen einen wirtschaftlichen Härtefall darstellen können. Grundsätzlich sind von Hardship-Klauseln Fälle der wirtschaftlichen Unzumutbarkeit erfasst, wie sie insbesondere durch rasante Preissteigerungen entstehen können. Allerdings erfordert ein Härtefall in der Regel eine übermäßige Erschwerung der Leistungserfüllung im Sinne einer grundlegenden Störung des Vertragsgleichgewichts. Während die bloße Verteuerung der Leistung bzw. Wertminderung der Gegenleistung grundsätzlich nicht erfasst ist, wird ein Härtefall insbesondere in Fällen angenommen, in denen die wirtschaftliche Belastung eine Partei in der Nähe der Existenzgefährdung bringt. Die Schwelle für die Annahme eines Härtefalls ist hoch – und setzt stets eine umfassende Würdigung aller Umstände des Einzelfalls voraus.

Um insbesondere bei langfristigen Verträgen auch für den Fall einer starken Inflationssteigerung abgesichert zu sein, haben sich Wertsicherungsklauseln mit einer Indexbindung bewährt. Weitere hilfreiche Instrumente können Nachverhandlungsklauseln oder die Kalkulation von Risikozuschlägen für Preisschwankungen sein.

Fazit

Die Nachwirkungen der COVID-19-Pandemie, mehrere Kriege, hohe Inflation, Naturkatastrophen und vergleichbare unvorhergesehene Ereignisse stellen die internationalen Lieferbeziehungen vor große Herausforderungen. Die deutschen gesetzlichen Regelungen und Auslegungsgrundsätze für Lieferverträge bieten in vielen Fällen keine zufriedenstellende Lösung.

Vertragliche Regelungen wie insbesondere Force Majeure- und Hardship-Klauseln können für eine interessengerechtere Risikoverteilung sorgen. Musterklauseln wie diejenigen der ICC können eine erste Orientierung für die Formulierung bieten, sollten aber an die Umstände und die Interessen der Vertragsparteien im Einzelfall angepasst werden. Insbesondere regionale Risiken und branchentypische Besonderheiten sollten bei der individuellen Ausgestaltung solcher Klauseln besondere Beachtung finden.

Über die Autorin

Susanne Schwalb ist Rechtsanwältin und Partnerin der Kanzlei CMS Hasche Sigle in München. Schwerpunkt ihrer Tätigkeit sind internationale Handelsschiedsverfahren sowie der Rechtsschutz von Auslandsinvestitionen im gestaltenden und streitigen Bereich.

Die Autorin dankt Eric Bremer und Annika Geczy für ihre wertvolle Unterstützung bei der Erstellung dieses Beitrags.


Hinweis: Begriffe wie „Schuldner“, „Gläubiger“ etc. beziehen sich hier häufig auf die Legaldefinitionen und werden daher im generischen Maskulinum verwendet.

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