► Interview 

Aktuelle Entwicklungen im Bereich der Seepiraterie 

Michael Howlett
(Internationales Schifffahrtsbüro, IMB)

Seepiraterie hat unmittelbare Auswirkungen auf die Sicherheit der Schiffsbesatzung und der beförderten Ladung, was sich wiederum negativ auf den globalen Handel auswirkt, denn gerade der Handel über Seewege ist eine essentielle Triebkraft des globalen Wirtschaftswachstums. Das International Maritime Bureau (IMB), das Internationale Schifffahrtsbüro der ICC, will die Schifffahrtsbranche, Regierungen, Strafverfolgungsbehörden, Wissenschaftler:innen und andere für die Gefahren und Auswirkungen von Piraterie sensibilisieren. Für diese Akteure stellt das IMB die Hauptinformationsquelle für gesicherte Meldungen über Verbrechen dieser Art dar. Und das zeigt Wirkung: Durch die kostenlosen Dienste des IMB hat sich die Kriminalität in den letzten Jahrzehnten in mehreren Gewässern unmittelbar reduziert, was zu mehr Sicherheit für Seeleute geführt hat. Dennoch gibt es auch besorgniserregende Entwicklungen. Wir haben hierzu Michael Howlett, Leiter des IMB, befragt. 

Das IMB ist seit 1981 die zentrale Anlaufstelle im Kampf gegen alle Arten von Kriminalität und Fehlverhalten auf See. Wie sieht der Arbeitsalltag in so einer Organisation aus?

Das IMB Piracy Reporting Centre (PRC) in Kuala Lumpur, das Fälle von Piraterie auf See erfasst, wird durch Spenden aus der Branche finanziert. Jedes Jahr entsteht fast zwangsläufig ein Defizit, das durch Abonnementdienste, die das IMB seinen Mitgliedern anbietet, ausgeglichen wird. Ein typischer Arbeitsalltag beim IMB umfasst daher neben der Koordination mit der PRC auch eine enge Zusammenarbeit mit den IMB-Mitgliedern aus dem Banken-, Schifffahrts-, Versicherungs- und Handelssektor bei der Schadenverhütung und Beratung. Ein wesentlicher Bestandteil ist z.B., dass das IMB die Mitgliedsbanken mit einem umfassenden Dokumentenprüfungsdienst unterstützt, um Betrug bei der Handelsfinanzierung erkennen und verhindern zu können sowie die Einhaltung von Geldwäschebekämpfung- (AML) und Sanktionsvorschriften zu gewährleisten. Das gehört auch zu unseren Aufgaben. 

Nach einigen Jahren mit rückläufigen Zahlen zeigt der Seepiraterie-Jahresbericht für das Jahr 2023 wieder einen Anstieg von Vorfällen auf See…

Ja, in der Tat. Der IMB-Jahresbericht 2023 über Piraterie und bewaffnete Raubüberfälle auf See verzeichnete 120 Vorfälle, verglichen mit 115 im Jahr 2022. Im Jahr 2023 wurden 105 Schiffe geentert, neun Angriffe versucht, vier Schiffe gekapert und zwei beschossen. Im Vergleich zu 2022 hat auch die Gewalt gegenüber Besatzungen überproportional zugenommen. Die Zahl der als Geiseln genommenen bzw. entführten Besatzungsmitglieder stieg von 41 auf 73 bzw. von zwei auf 14 im Jahr 2022 im Vergleich zu 2023.

Welche Entwicklungen, Tendenzen oder neue Probleme mit Blick auf Seepiraterie lassen sich ausmachen?

Ein Bereich, der in letzter Zeit viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat und Diskussionen hervorruft, ist das mögliche Wiederaufleben der Piraterie vor der Küste Somalias. Dies wurde im IMB-Pirateriebericht für 2023 sowie im Bericht für das erste Quartal 2024 besonders deutlich. 

Somalische Piraten sind in der Lage, Angriffe in großer Entfernung von der somalischen Küste auszuführen. Am besten veranschaulicht dies das Beispiel der Schiffskaperung am 14. Dezember 2023, welches die erste erfolgreiche Entführung durch somalische Piraten seit 2017 war: Ein unter maltesischer Flagge fahrender Massengutfrachter mit einer Tragfähigkeit von 41 000 DWT [Deadweight Tonnage, gibt die Tragfähigkeit eines Schiffs in Tonnen an, Anm. d. Redaktion] wurde 700 Seemeilen vor der Ostküste Somalias geentert und entführt. Es wird davon ausgegangen, dass die Piraten in der Lage waren, die Zitadelle [Angriffs-Schutzraum im Schiff, Anm. d. Redaktion] zu durchbrechen und alle 18 Besatzungsmitglieder als Geiseln zu nehmen. Ein Besatzungsmitglied wurde Berichten zufolge dann am 18. Dezember 2023 aus medizinischen Gründen evakuiert.  

Was führt dazu, dass die Piraterie hier möglicherweise wiederauflebt?

Für das IMB ist es kein Zufall, dass die Entführung ausgerechnet im Dezember 2023 stattfand, während die Schifffahrt im Roten Meer gleichzeitig ebenfalls besorgniserregenden und zunehmenden Angriffen von Huthi-Rebellen ausgesetzt war, und der Fokus deshalb vor allem auf diese Region gerichtet war. 

Auch eine Schiffsentführung im Indischen Ozean, die am 04. Januar 2024 stattfand, war kein Einzelfall. Dort wurde ein Massengutfrachter mit 170.000 DWT und 450 Seemeilen vor der Ostküste Somalias geentert. Der Besatzung gelang es, sich in die Zitadelle zurückzuziehen, und einem indischen Marineschiff, das mit der Piracy Reporting Centre des IMB in Verbindung stand, schaffte es wiederum, das Schiff und seine 21 Besatzungsmitglieder zu entern und zu sichern.

Am 27. Januar 2024 wurde ein Massengutfrachter mit 55.000 DWT etwa 600 Seemeilen vor Mogadischu angegriffen und beschossen. Die bewaffneten Sicherheitskräfte an Bord des Schiffes erwiderten das Feuer, woraufhin die Piraten den Angriff abbrachen und sich entfernten.

​Alle Seeleute und Schiffe haben das Recht auf friedliche Durchfahrt und die Freiheit der Schifffahrt.

Leider wurde am 12. März 2024 ein bangladeschischer Massengutfrachter mit 58.000 DWT etwa 550 Seemeilen vor Mogadischu von einer Gruppe von über 20 Piraten geentert und gekapert. Das Schiff befand sich auf dem Weg von Mosambik in die Vereinigten Arabischen Emirate, als sich der Vorfall ereignete. Die mutmaßlich somalischen Piraten profitierten zweifellos davon, dass die Aufmerksamkeit vom Indischen Ozean abgelenkt war, der ein riesiges Gebiet für potenzielle Piratenangriffe bietet. Diese Angriffe richten sich gegen relativ große Schiffe, die sich in großer Entfernung von der Küste befinden.

Dem IMB PRC sind auch mehrere gekaperte Fischerboote und Dhows bekannt, die sich dann hervorragend als Mutterschiffe eignen, von denen aus Schiffe in großer Entfernung von der somalischen Küste angegriffen werden können.

Hinzukommt dann ja noch die Bedrohung durch die aktuellen Angriffe der Huthi-Rebellen...

Ja, aber diese Arten von Angriffen auf die Schifffahrt im südlichen Roten Meer und im Golf von Aden werden nicht als seeräuberische Handlungen eingestuft. Sie verkomplizieren die Lage aber sicherlich. Klar ist: Alle Seeleute und Schiffe haben das Recht auf friedliche Durchfahrt und die Freiheit der Schifffahrt. Und in erster Linie sind Regierungen am besten dazu in der Lage, auch dafür Sorge zu tragen, dass diese Rechte und Freiheiten für alle gewahrt bleiben.

Wie wirken sich diese Entwicklungen insgesamt auf den internationalen Handel aus? Werden Handelsschiffe längere Routen nehmen und was würde das für die Lieferketten bedeuten?

Mehrere "Just-in-time"-Lieferketten sind von Unterbrechungen bedroht, insbesondere durch die Umleitung von Containerschiffen aus dem Roten Meer und um das Kap der Guten Hoffnung. Diese Unterbrechungen gefährden eine wichtige Schifffahrtsroute, über die ein erheblicher Teil des weltweiten Containerverkehrs abgewickelt wird.

Die Einnahmen des ägyptischen Suezkanals haben sich in diesem Jahr fast halbiert, da der Containerverkehr seit Beginn der Angriffe um 65 % zurückgegangen ist. Für Schiffe, die nicht durch den Suezkanal fahren, verlängert sich die Reisezeit um zwei bis drei Wochen, was zu höheren Kosten führt und Befürchtungen weckt, dass dies die weltweite Inflation anheizen könnte.

Was könnte/sollte Ihrer Meinung nach getan werden, um die Gewässer wieder sicherer zu machen?

Was die Piraterie anbelangt, so hat die indische Marine Mitte März das im Dezember 2023 im Indischen Ozean gekaperte Schiff abgefangen und in einer 40-stündigen Marineoperation 17 Besatzungsmitglieder befreit und 35 somalische Piraten gefangen genommen. Das gekaperte Schiff wurde Berichten zufolge mit der Absicht auf See gebracht, es als Mutterschiff für weitere Angriffe zu nutzen. Das Vorgehen der indischen Marine, das gekaperte Schiff abzufangen und auszuschalten, ist lobenswert. Diese Art von robuster Reaktion ist notwendig, um zukünftige Piraterievorfälle zu verhindern.

Die internationalen Seestreitkräfte haben erheblich zum Rückgang der somalischen Piraterie beigetragen. Seepatrouillen und Interventionen der Marine sind die erfolgreichsten Abschreckungsmaßnahmen in allen Fällen von Piraterie und bewaffneten Raubüberfällen weltweit. Eine kontinuierliche und verstärkte Marinepräsenz im Roten Meer, im Golf von Aden, im Arabischen Meer und vor der Ostküste Somalias ist daher unabdingbar. Eine verstärkte Präsenz der Marine wird auch das Vertrauen der Seeleute bei der Durchfahrt durch diese Gewässer stärken.   

Außerdem wird den Schiffen empfohlen, bei der Durchfahrt durch diese Gewässer alle Empfehlungen in der neuesten Fassung der besten Managementpraxis (BMP)[1] des IMB zu befolgen, einschließlich der Registrierung und Meldung.

Herzlichen Dank für das Interview! 

Michael Howlett 

ist Leiter des International Maritime Bureau (IMB), dem Internationalen Schifffahrtsbüro der Internationalen Handelskammer (ICC). Mehr über die Arbeit des IMB erfahren Sie unter www.icc-ccs.org.

Header © Ivan Marc – Shutterstock ID: 2413504943

[1] Siehe Best Management Practices (BMP 5): https://www.maritimeglobalsecurity.org/media/okxlfxae/bmp5-low_res.pdf (zugeletzt abgerufen am 05. Mai 2024).

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