► INTERVIEW
Fünf Jahre Incoterms® 2020
mit Prof. Dr. Burghard Piltz
Die Incoterms, die weltbekannten Lieferbedingungen, sind fester Bestandteil von 90 Prozent aller internationalen Kaufverträge. Diesen Herbst feiern sie ihren fünften Geburtstag! Die aktuelle Auflage, Incoterms® 2020, die im Herbst 2019 von der ICC veröffentlicht wurden, sind das Ergebnis einer sehr intensiven Zusammenarbeit zwischen Handelsexpert:innen aus aller Welt. Insgesamt flossen über 3.000 Kommentare in ihre Erstellung hinein. Nun sind sie seit fünf Jahren im Einsatz. Zeit, nicht nur zurück, sondern auch nach vorne zu blicken! Wir haben uns hierzu mit Prof. Dr. Burghard Piltz, Rechtsanwalt und Incoterms® 2020-Experte, ausgetauscht. Hören Sie das komplette Interview in unserem Podcast oder lesen Sie hier die Zusammenfassung.
PODCAST: Fünf Jahre Incoterms® 2020
Hören Sie hier das komplette Interview zu fünf Jahren Incoterms® 2020. Wie haben sich die Incoterms im Unternehmensalltag bewährt, vor welchen aktuellen Herausforderungen stehen Juristen, Logistik- und Vertriebsexperten in der Praxis? Darüber spricht Dr. David Saive, Rechtsanwalt und Berater für die Digitalisierung des Außenhandels und der Logistik, im Namen der ICC Germany mit dem Incoterms-Experten Prof. Dr. Burghard Piltz in unserem Podcast.
ICC GERMANY: Bevor wir jetzt in medias res gehen, würde ich Sie gern bitten, einmal die Incoterms® 2020 als solche vorzustellen.
PILTZ: Incoterms spielen in der Praxis eine große Rolle. Das individuelle Unternehmen hat meist nur die Erfahrung aus den eigenen Vorfällen und wird weniger davon mitbekommen, was generell mit den Incoterms bei anderen Unternehmen oder auch in anderen Landesteilen auf diesem Planeten, mit dem man nicht so viel zu tun hat, passiert.
Wenn man sich die Incoterms® 2020 anschaut und daneben die Incoterms 2010 legt, wird man feststellen, dass der Aufbau und die Struktur beibehalten worden sind. Es sind weiterhin elf Klauseln und es gibt weiterhin für jede Klausel jeweils 20 Regeln. Zehn Regeln A1 bis A10, die die Pflichten des Verkäufers, und zehn Regeln B1 bis B10, die die Regeln des Käufers zusammenfassen. Dieser erste Anschein darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass nicht eine einzige Regel der Incoterms unbearbeitet in die Version von 2020 übernommen wurde. Es ist an allen Regeln gearbeitet worden. Daher tut die Praxis gut daran, sich mit den Incoterms-Inhalten, jedenfalls der Klauseln, mit denen regelmäßig gearbeitet wird, intimst vertraut zu machen, um eventuellen Fehlanwendungen vorzubeugen.
ICC GERMANY: Jetzt haben Sie gesagt, jede Klausel ist im Grunde angefasst worden. Was waren denn die wesentlichen Änderungen?
PILTZ: Ins Auge wird fallen, dass eine Klausel, DAT, in der ursprünglichen Fassung 2010 erhalten, aber in den Incoterms® 2020 nicht mehr aufgeführt ist. Daraus ist DPU geworden. DAT hieß „Delivered At Terminal“ und DPU heißt jetzt „Delivered Place Unloaded“. Man wird sich fragen, warum ist diese Änderung vorgenommen worden? Schlichtweg vor dem Hintergrund, dass die Klausel DAT von der Praxis häufig falsch eingesetzt worden ist:
DAT wurde von den Verwendern so verstanden: „Ich brauche also einen Terminal“, „Delivered At Terminal“. Wenn kein Terminal gegeben ist, dann macht diese Klausel keinen Sinn. Die Anwender haben aber leider verabsäumt, sich die Regeln zu dieser Klausel genauer anzuschauen und die Erläuterungen, die es dazu gibt. Dort stand ausdrücklich, dass kein Terminal im technischen Sinne gegeben sein muss, sondern jeder Schuppen, jeder umzäunte Platz reicht. Das ist offensichtlich nicht gelesen worden. Demzufolge kam die Klausel nicht zur Anwendung. Mit der jetzigen Fassung ist der Unterschied zu DAP deutlicher gemacht worden: „Delivered At Place Unloaded“.
Erfahrungen aus der Praxis
ICC GERMANY: Derzeit jagt eine Krise die nächste jagt oder überlagert sie. Welche Herausforderungen haben sich denn da speziell ergeben mit Blick auf die Incoterms-Klauseln FCA, DPU und Co.? Haben Sie Erfahrungen aus der Praxis, über die Sie berichten können? Wagen Sie vielleicht sogar schon den Ausblick auf zukünftige Änderungen?
PILTZ: Die Klauseln FCA (FreeCarrier)und DPU (Delivered at Place Unloaded) werden vielfach eingesetzt. Es sind auch die favorisierten Klauseln. Der Exporteur, der die entsprechende Marktposition hat, wird versuchen, mit FCA zu arbeiten. Darin sind durchaus Aspekte enthalten, die seinen Vorstellungen vielleicht nicht genügen, aber die Klausel ist die, die noch am ehesten seinen Interessen entspricht. Der Importeur wird versuchen, mit DPU den Vertrag abzuschließen. Das wird nicht immer gelingen, aber das sind heute in der Praxis die präferierten Klauseln. Wobei ich auch da aus meiner eigenen Erfahrung sagen muss: Es ist nicht entscheidend, möglichst wenig Pflichten zu haben und die Pflichten der anderen Seite zuzuordnen. Entscheidend sollte sein, wer denn die Pflichten, die bei einem internationalen Kaufvertrag entstehen – nämlich die Ware vom Verkäufer zum Käufer zu bringen und das Geld vom Käufer zum Verkäufer – am besten bewerkstelligen kann. Zwischen den Parteien sollte ausgelotet werden, wer das am besten kann.
Letztlich ist es für beide Seiten sinnvoll, das Geschäft in einer Weise abzuwickeln, dass es am günstigsten und erfolgreichsten durchgeführt wird. So sollte man das angehen.
In Berlin hat es zum Beispiel eine Situation gegeben, in der ein kleines bis mittelständisches Unternehmen, im internationalen Geschäft nicht sonderlich erfahren, großräumige Produkte aus China beziehen musste, weil sie in Europa nicht zu bekommen waren. Dann stand der Transport dieser Produkte an – besonders große Ausmaße, besonders sensible Produkte.Obwohl der Verkäufer die deutlich marktstärkere Partei war, ein großes chinesisches Unternehmen, das weltweit exportiert und im Prinzip sagte: „Wir arbeiten immer mit FOB oder EXW“, haben sich die Parteien letztlich auf DAP geeinigt. Mit der Überlegung: Dieses Großunternehmen ist viel eher und viel günstiger in der Lage, den Transport dieser großdimensionierten Produkte von China nach Berlin zu bewerkstelligen, als das ein klein- bis mittelständisches Unternehmen aus dem Raum Brandenburg erledigen kann. Die haben keine Erfahrung mit diesen Dingen, die haben nicht die Kontakte. Letztlich ist es für beide sinnvoll, das Geschäft in einer Weise abzuwickeln, dass es am günstigsten und erfolgreichsten durchgeführt wird. So sollte man das angehen.
ICC GERMANY: Das heißt für die Vertragsverhandlungen oder für die Geschäftsanbahnungen: Was raten Sie da? Einen offenen Austausch über die eigenen Fähigkeiten?
PILTZ: Ja. Man sollte schauen: Wo bestehen besondere Erfahrungen? Wer hat die Kenntnisse? Wer hat die Kontakte? Das international tätige Unternehmen hat natürlich mit allen möglichen Carriern Erfahrung gesammelt und die entsprechenden Kontakte. Es konnte es somit günstiger gestalten.
Was die Frage betrifft, was es denn für die Zukunft zu ändern gäbe: Wenn man dem bisherigen 10-Jahres-Rhythmus, der in den letzten fünf Jahrzehnten gepflegt worden ist, weiterführt, dann stehen die 2030er an. Es ist aber nicht so, dass die ICC wie ein Gesetzgeber Regelungen bestimmt und sagt: „Das müsst ihr jetzt befolgen“,. Sondern es läuft vielmehr so, dass die ICC von den Anwendern und von den Mitgliedern ihre Erfahrungen sammelt, Informationen und Anregungen einholt. So war es auch bei den Vorauflagen der Incoterms. Im Prinzip sammelt die ICC das, was die Praktikerinnen und Praktiker an Fragen, Problemen und Sorgen haben, und versucht, es in einige wenige Worte zusammenzufassen.
ICC GERMANY: Das ist dann auch der Appell: Teilen Sie uns Ihre Anmerkungen und Meinungen mit, kommentieren Sie die Incoterms, schicken Sie uns Urteile. Das entwickelt am Ende die Klauseln weiter und führt zu einer noch besseren Praxisbezogenheit der Klauseln. Richtig?
PILTZ: Absolut richtig! Wir leben von einem gegenseitigen Austausch. Ich könnte mir vorstellen, dass man bei einer neuen Version der Incoterms zum Beispiel den Einsatz von Containern stärker berücksichtigt. Der weit überwiegende Anteil von Produkten, selbst Schüttgüter, wird ja in Containern gehandelt. Das sollte in den Incoterms vielleicht noch deutlicher herausgearbeitet werden.
Mein Votum wäre auch, dass man die Klausel FCA aufteilt. Die Klausel FCA hat zwei unterschiedliche Gestaltungen: Einmal Lieferort beim Verkäufer und das andere Mal Lieferort an einer dritten Stelle. Auch unterschiedliche Lieferhandlungen: Einmal muss der Verkäufer übergeben, das andere Mal muss er lediglich zur Verfügung stellen. Mein Votum wäre, FCA aufzuspalten in eine bezogen auf den Lieferort EXW vergleichbare Klauselund ansonsten mit den FCA-Regelungen., und zum andern die Klausel FCA mit dem Lieferort an einem dritten Ort.
Empfehlungen für die Anwendung
ICC GERMANY: Welche Empfehlungen hätten Sie denn für die Praxis, wenn man sich den Ablauf eines typischen Ex- oder Importgeschäfts anschaut? Wer entscheidet denn zum Beispiel über die Auswahl einer Incoterms-Klausel? Ist es die Rechtsabteilung? Ist es der Vertrieb? Und dann vielleicht die Folgefrage: Wird denn da eigentlich auch die richtige Klausel gewählt?
PILTZ: Ich glaube, die Erfahrung zeigt, dass sehr häufig, wenn diese Frage ansteht, die Bearbeiter, also die jeweiligen Sachbearbeiterinnen und -bearbeiter vor Ort, sich auf zweitklassiges Material im Internet stützen, wo auf einer DIN-A4-Seite dann alle elf Klauseln erläutert werden, und danach eine Entscheidung treffen. Die Entscheidung für eine Klausel erfolgt häufig allein kostenorientiert, was mit Sicherheit nicht sachgerecht ist. Mein Votum wäre, dass, wenn ein Unternehmen eine Rechtsabteilung hat oder wenn ein Unternehmen sich die Auslandskaufverträge durch auswärtige Juristinnen und Juristen bearbeiten lässt, dass dort besprochen wird, welche Klausel man denn im Regelfall nehmen soll.
Ich empfehle meiner Mandantschaft in aller Regel Folgendes: Für die Verträge und die AGB wird eine bestimmte Klausel vorgesehen, und wenn von dieser Incoterms-Klausel abgewichen werden soll, dann bedarf es dazu der Freigabe durch eine Person in dem Unternehmen, die in einer anderen Hierarchie angeordnet ist, um übersehen zu können, welche weiteren Konsequenzen die Veränderung der Klausel haben kann. Es ist eben zuweilen deutlich mehr, als das, was in den einzelnen Klauseln und in den dazu gehörigen Regeln zu den Klauseln niedergelegt ist.
Grundsätzlich wäre meine Empfehlung etwa für Exportbedingungen die Klausel FCA und für Importbedingungen die Klausel DPU vorzusehen, aber mit gewissen Schnittstellen, um das im Einzelfall auch nach Rücksprache mit den entsprechenden Vorgesetzten abändern zu können. Man muss sich zudem darüber im Klaren sein: Die Incoterms betreffen nur die Warenbewegung. Wir haben den Kaufvertrag zwischen Käufer und Verkäufer, und nach dem Kaufvertrag hat der Verkäufer dafür zu sorgen, dass die Ware vom Verkäufer zum Käufer kommt, und der Käufer hat dafür zu sorgen, dass das Geld vom Käufer zum Verkäufer kommt. Zu Letzterem sagen die Incoterms nichts. Die Incoterms sind auch kein Kaufvertrag. Auch das wird zuweilen nicht immer klar gesehen. Die Incoterms regeln lediglich, welche Möglichkeiten es auf Basis eines abgeschlossenen Kaufvertrages gibt, dass die Ware vom Verkäufer zum Käufer bewegt wird.
Zukunftsthemen und Incoterms
ICC GERMANY: Zum Abschluss noch ein Blick nicht nur auf die Klauseln selbst, sondern auch auf das Konstrukt Incoterms im Ganzen: Gern würden wir Ihre ganz persönliche Meinung hören, ob denn die Incoterms, so wie sie sind, vom inhaltlichen Regelungsbereich her abschließend sind. Oder sollte man nicht weitere Kriterien aufnehmen, wie zum Beispiel Nachhaltigkeitskriterien?
PILTZ: Wenn die Anwender, wenn die Mitglieder der ICC darauf Wert legen, dann wird das bei der nächsten Redaktion sicherlich bedacht und in Erwägung gezogen. Auf der anderen Seite muss aber auch nicht alles, was relevant ist, unbedingt geregelt werden, siehe zum Beispiel die Bestimmungen zum VGM. Wir sollten auch berücksichtigen: Ein besonderer Reiz der Incoterms besteht darin, dass sie relativ kurz und knapp gefasst und einigermaßen übersichtlich sind. Darüber hinaus werden sie nicht nur in Europa eingesetzt, sondern sie sind wirklich für alle Teile, für alle denkbaren Anwender auf dieser Welt konzipiert. Und ob da jedermann die Sensibilität etwa für Nachhaltigkeitskriterien oder Ähnliches hat, wie das in Europa ausgeprägt ist, da stelle ich doch ein deutliches Fragezeichen hinter. Wenn man Dinge aufnimmt, die zu sehr regional bezogen sind, dann hat das möglicherweise zur Konsequenz, dass Anwender aus anderen Regionen sich nicht mehr angesprochen fühlen und die Incoterms nicht mehr verwenden. Das wäre sicherlich kein wünschenswertes Ergebnis.
ICC GERMANY: Vielleicht noch ein abschließender Blick in die Zukunft: Sehen Sie am Horizont weitere neue Herausforderungen oder vielleicht Chancen, insbesondere für die Berücksichtigung der Digitalisierung in den Incoterms oder darüber hinaus?
PILTZ: Die Digitalisierung wird ganz sicher sehr hilfreich sein. Aber man darf darüber nicht vergessen, dass eben in weitem Umfang auch noch papiergebundene Abwicklung erforderlich ist und das diese nicht sofort ersetzt werden kann. Das braucht alles Zeit.
Aber ich würde mit Blick auf die Zukunft und über den Bereich der Incoterms hinausgehend sagen, dass es wünschenswert wäre, wenn vor allen Dingen die Bankenkommission der ICC sich mit den Dokumenten beschäftigt, die für ein Akkreditiv vorzulegen sind. Dass zum Beispiel anstelle eines On-Board-Konnossements, was heute noch Praxis ist, ein Received-for-Shipment-Dokument ausreicht. Das On-Board-Dokument ist einer der Gründe, weshalb heute vielfach Verträge noch mit der Incoterm FOB (Free on Board) abgeschlossen werden, obwohl die Klausel FOB für den Verkäufer handfeste Nachteile hat, die er auch nicht anderweitig auffangen kann. Der Exporteur kann nur hoffen, dass es in der Phase nach Ablieferung des Containers am Terminal gut geht, bis er dann an Bord des Schiffes gelangt ist, und dass der Container auch rechtzeitig an Bord des Schiffes kommt. Das sind alles Dinge, die ich als Verkäufer nicht mehr rechtlich noch tatsächlich beeinflussen kann. Nach der FOB-Klausel bin ich aber für die Lieferung an Bord verantwortlich. Wünschenswert wäre es, da ein vergleichbares Papier zu kreieren und in den einheitlichen Richtlinien für Dokumentenakkreditive niederzulegen, das deutlich eher ansetzt und mit der heutigen Gestaltung der Abwicklung (Abgabe des Containers im Hafen-Terminal) konform geht.
ICC GERMANY: Vielen Dank für dieses wirklich sehr konkrete Beispiel. Unser Appell wäre, zu prüfen, ob die Ebenen gut miteinander verbunden sind.
PILTZ: Ich kann aus meiner praktischen Erfahrung nur dringlich nahelegen, dass die Incoterms-Broschüre von denjenigen angeschafft und gelesen wird, die mit den Geschäften zu tun haben. Sie müssen nicht die gesamte Broschüre von vorne bis hinten lesen. Wenn Sie mit der Klausel FCA arbeiten, dann sollten Sie aber in die zehn Seiten, die der Klausel FCA gewidmet sind, immer mal wieder reinschauen. Warum sage ich das? Ich bekomme immer wieder Anfragen, wo man eigentlich nur sagen kann: „Das steht doch in der Broschüre.“ Für den Fall, dass es darauf ankommen sollte, ist nicht entscheidend, was irgendjemand auf dem Bildschirm zu einer bestimmten Klausel veröffentlicht hat. Es ist allein entscheidend, was in der englischen Version der Incoterms-Broschüre 2020 steht.
Das Interview ist die Kurzfassung eines längeren Podcasts zum Thema „Fünf Jahre Incoterms“ mit Prof. Dr. Burghard Piltz und Dr. David Saive, den Sie hier abrufen können.
Prof. Dr. Burghard Piltz
ist Rechtsanwalt und hat innerhalb der Drafting Group an den Incoterms® 2020 mitgewirkt sowie mehrere Bücher und Fachartikel über internationales Vertragsrecht, Incoterms und das UN-Kaufrecht (CISG) veröffentlicht. Er ist zudem als Berater und Referent zu diesen Themen tätig.
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