Die Reform beruht auf einer konservativen Grundhaltung, die ihren Ursprung in der „Verfassungsrevolution“ der 1990er Jahre hat. Damals verabschiedete die Knesset, das israelische Parlament, das Nationalstaatsgesetz zum Schutz bestimmter Menschenrechte. Dieses Nationalstaatsgesetz wurde später vom Obersten Gerichtshof Israels zur verfassungsrechtlichen Prüfung von Gesetzesvorhaben herangezogen. Auf der Grundlage des Nationalstaatsgesetzes überprüfte die Justiz außerdem Regierungs- und Verwaltungshandeln.
Im Laufe der Jahre argumentierten konservative Juristen und Politiker, meist solche des rechten Flügels des politischen Spektrums, die israelischen Gerichte seien bei der Auslegung des Nationalstaatsgesetzes zu aktivistisch geworden. Die Gerichte hätten zu viel Kontrolle über die Politik übernommen. Die Gerichte hätten überdies ein neues Kräfteverhältnis zwischen den drei Staatsgewalten – der Legislative (Knesset), der Exekutive und der Judikative unter der Leitung des Obersten Gerichtshofs – herbeigeführt, das mit den grundlegenden Prinzipien des demokratischen Staatsaufbaus nicht in Übereinstimmung gebracht werden könne. Während die Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs die traditionelle Gewaltenteilung betonten, argumentierten die Kritiker, eine verstärkte gerichtliche Kontrolle beeinträchtige die Effizienz der Verwaltung.
Anstatt den Reformvorschlag vollständig weiterzuverfolgen, erklärte der Justizminister, ihn als Geste des guten Willens vorerst nur schrittweise umsetzen zu wollen. Zunächst solle die oben genannte Einschränkung des „Angemessenheitskriteriums“ vorgenommen werden. Mit Verweis darauf, Verwaltungshandeln müsse im Einzelfall angemessen sein, konnten die israelischen Gerichte Verwaltungsentscheidungen nach ihrem Ermessen aufheben. Selbst in Fällen, in denen nicht nachgewiesen wurde, dass Verwaltungsentscheidungen sachfremde Erwägungen zugrunde lagen, konnten die Gerichte auf diese Weise eingreifen. Ein bekannt gewordener Fall eines solchen Eingriffs ereignete sich bspw. in den 1990er Jahren, als der Oberste Gerichtshof die Ernennung von Ministern, die wegen der Annahme von Bestechungsgeldern strafrechtlich verfolgt wurden, für unangemessen erklärte und aufhob.
Im Juli 2023 verabschiedete die Knesset eine Novelle des israelischen Nationalstaatsgesetzes. Gemäß dieser Novelle ist es der Judikative nicht mehr gestattet, Entscheidungen zu überprüfen, die von der Regierung, vom Premierminister, von einem Minister oder von einem Beamten getroffen wurden. Im Januar 2024 entschied der Oberste Gerichtshof, diese Novelle des Nationalstaatsgesetzes sei verfassungswidrig und hob sie auf.
Nach dem Terrorangriff vom 07. Oktober 2023 wurde die weitere Umsetzung des Reformvorschlags vorläufig eingestellt. Der Terrorangriff hat den Fokus der Regierung und der Öffentlichkeit verschoben und die Bedeutung innerstaatlicher Einheit verstärkt.
Signifikante Auswirkungen auf zivil- und handelsrechtliche Angelegenheiten nicht zu erwarten
Trotz der möglichen verfassungs- und verwaltungsrechtlichen Bedenken und der überwiegend negativen internationalen Wahrnehmung sind etwaige Auswirkungen der Reform auf handelsrechtliche Streitigkeiten bislang noch nicht absehbar.
Aufgrund der bisher nur teilweisen Umsetzung des weitreichenden Reformvorschlags sind jedenfalls kurz- oder mittelfristig keine wesentlichen Auswirkungen auf zivil- und handelsrechtliche Angelegenheiten zu erwarten. Auch langfristig ist davon auszugehen, dass die vorgeschlagene Rechtsreform entweder nur geringe oder gar keine negativen Auswirkungen auf handelsrechtliche Streitigkeiten haben wird.
Die internationale Wahrnehmung des israelischen Rechtssystems hat großen Einfluss auf ausländische Investitionen.
Erstens würde sich jede weitere Reforminitiative voraussichtlich auf das Verfassungs- und Verwaltungsrecht konzentrieren, und nicht direkt auf das Zivilrecht.
Zweitens ist den politischen Parteien in Israel bewusst, dass die internationale Wahrnehmung des israelischen Rechtssystems großen Einfluss auf ausländische Investitionen hat, vor allem im High-Tech-Sektor. Israel hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem außerordentlich attraktiven Standort für internationale Start-Ups entwickelt. Viele internationale Konzerne haben in Israel Forschungs- und Entwicklungszentren eingerichtet, sodass die israelische Wirtschaft in hohem Maße von internationalen Investitionen in lokale Infrastrukturprojekte und technologischen Kooperationen abhängig geworden ist. Unabhängig vom politischen Klima wird es daher im besten Interesse aller politischen Parteien liegen, ein rechtliches System aufrechtzuerhalten, das solche Investitionen weiterhin ermöglichen und fördern wird. Auch wenn der aktuelle Diskurs das nicht unbedingt vermuten lässt, ist das derzeitige israelische Rechtssystem bei handelsrechtlichen Streitigkeiten sicher und stabil. Selbst bei einer Förderung konservativer Reformvorschläge würde die bestehende Rechtssicherheit höchstwahrscheinlich auf Kosten des richterlichen Ermessens sogar noch gestärkt werden.
Eine Schwächung der israelischen Gerichte würde internationale Handelspartner außerdem dazu veranlassen, verstärkt auf alternative Streitbeilegungsmechanismen wie Schiedsverfahren zurückzugreifen. Israelische Gerichte tendieren aktuell dazu, (internationale) Schiedssprüche zu bestätigen, ohne deren Inhalt selbst zu überprüfen. Die Knesset hat unter der derzeit gewählten Regierung im Februar 2024 ein Gesetz über die internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit verabschiedet. Das neue Gesetz übernimmt dabei fast vollständig das UNCITRAL-Modellgesetz von 2006. Es zielt darauf ab, internationale Schiedsverfahren zu vereinfachen und zu harmonisieren. Die vermehrte Inanspruchnahme von Schiedsverfahren könnte die israelische Justiz entlasten und dabei helfen, den bestehenden Rückstau an Fällen abzubauen. Dieser ist teilweise auf die verringerten Ressourcen der Justiz infolge politischer Ernennungsstreitigkeiten bei Richtern zurückzuführen.
Positive Auswirkungen auf kommerzielle Investitionen?
Letztlich könnte sich der Reformvorschlag überraschend positiv auf Investitionen auswirken und die Kosten für Rechtsstreitigkeiten senken. In einem umstrittenen Präzedenzfall aus den 1990er Jahren hatte der Oberste Gerichtshof bspw. einen neuen Grundsatz zur Auslegung von Handelsverträgen eingeführt. Bis dahin galt ein zweistufiges Verfahren, bei dem sowohl der schriftliche Wortlaut eines Vertrages gewürdigt als auch auf äußere Umstände Bezug genommen wurde, wenn sich aus dem Wortlaut kein übereinstimmender Parteiwille ableiten ließ. Seither waren die Gerichte dazu angehalten, über den Wortlaut hinaus immer die Gesamtheit des Vertragsschlusses zu betrachten, um daraus den übereinstimmenden Willen der Vertragsparteien abzuleiten. Dieser Ansatz der Vertragsauslegung stellte das richterliche Ermessen über die in der Vertragssprache formulierten Absichten der Parteien. Nach Kritik im Hinblick auf die entstandene Rechtsunsicherheit wurden im Jahr 2011 das nationale Vertragsgesetz von der Knesset geändert. Die Gerichte wurden angehalten, sich wieder auf den tatsächlichen Wortlaut des Vertrags zu stützen. Der derzeitige Reformvorschlag sieht eine Vertragsauslegung nach dem neuen Vertragsgesetz und damit anhand des Wortlauts vor.
Blick in die Zukunft
In seiner Gesamtheit wird der Reformvorschlag der israelischen Regierung zu einer Vielzahl von neuen rechtlichen Regelungen führen und deshalb von vielen als „Schocktherapie“ empfunden. Die vorgesehenen umfassenden Befugnisse der Legislative werden ohne Kontrollmöglichkeiten der Judikative möglicherweise zu einem schwachen und leicht zu manipulierenden Rechtssystem führen. Es bleibt jedoch festzuhalten, dass selbst die stärksten Verfechter der Reform keine unmittelbare Bevorzugung nationaler Interessen gegenüber denen der internationalen Akteure fordern. Für handelsrechtliche Streitigkeiten ist nach derzeitigem Stand kein Nachteil in Sicht.
Asa Kling
ist Partner und Leiter der Abteilung für geistiges Eigentum bei Naschitz Brandes Amir & Co. in Tel Aviv.
Orr Amsel
ist Partner in der Abteilung für gewerblichen Rechtsschutz bei Naschitz Brandes Amir & Co. in Tel Aviv.
Dr. Boris Uphoff
ist Partner für Prozessrecht und gewerblichen Rechtsschutz bei McDermott Will & Emery in München.
Hinweis: Aufgrund der besseren Lesbarkeit, insbesondere der juristischen Bezeichnungen, und der Einheitlichkeit wird in diesem Artikel grundsätzlich das generische Maskulinum verwendet. Dies erfolgt ausschließlich aus redaktionellen Gründen.
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