Barbara Gessler
(Europäische Kommission)

Regeln und Partnerschaften
Die Anker der EU für Handel in turbulenten Zeiten 

Das regelbasierte multilaterale Handelssystem, das nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen wurde, hat den Wohlstand der EU und anderer entwickelter Volkswirtschaften gesichert und hunderten Millionen Menschen aus der Armut herausgeholfen. Im Angesicht der bisher schwersten Krise – welche Handelsprioritäten sollte die EU in den kommenden Jahren verfolgen?

Die EU steht in einem komplexen und sich rasch wandelnden Umfeld, das durch zunehmende geopolitische Spannungen, politisierte Wirtschaftsbeziehungen, massive ökologische Herausforderungen und rasante technologische Entwicklungen gekennzeichnet ist. 

Wir steuern durch unruhige Gewässer, sollten uns dabei aber unserer Stärke als größter Handelsblock mit einem Anteil am Welthandel von über 16 Prozent bewusst sein. Wir haben über die Jahrzehnte durch handelspolitisches Engagement das weltweit größte Netz von Handelsabkommen aufgebaut, mit Partnern auf der ganzen Welt: unsere Freihandelsabkommen mit 76 Ländern decken 46 Prozent unseres Außenhandels ab. Außerdem sind wir der wichtigste Handelspartner für 72 Länder rund um den Globus; zum Vergleich: China hat 71.   

Bei den Auslandsinvestitionen sind wir mit einem Anteil von 32 Prozent der weltweit größte globale Investor. Wir sind auch ein attraktives Ziel von Investitionen, mit ausländischen Investitionen von über 10 Billionen Euro bzw. einem globalen Anteil von 25 Prozent.

Handel für Wettbewerbsfähigkeit, Sicherheit und Nachhaltigkeit nutzen

Trotz dieser beeindruckenden Zahlen verliert die EU in der Weltwirtschaft angesichts der höheren Wachstumsraten in Schwellenländern an Gewicht. Deshalb müssen wir unsere Handels- und Investitionsbeziehungen zu Partnern in der ganzen Welt weiter ausbauen. 

Mit einer hohen Außenhandelsquote (45 Prozent) im Vergleich zu anderen großen Volkswirtschaften (25 Prozent in den USA) ist die EU bemerkenswert offen. Das gilt natürlich auch für Deutschland, auf das mehr als 27 Prozent der gesamten Extra-EU-Ausfuhren entfallen. 

Wird Offenheit als Waffe eingesetzt, kann sie eine Schwachstelle sein – und ist dennoch notwendig: Wir sind auf die Einfuhr verschiedener Rohstoffe, Energie, aller Arten von Teilen und Komponenten angewiesen, zwei Drittel unserer Importe sind Vorleistungen für unsere eigene Produktion. Die Zersplitterung des Welthandels kostet: Nach Angaben des Internationalen Währungsfonds (IWF) könnten mehr Handelsschranken und eine größere handelspolitische Unsicherheit langfristig die weltweite Produktion um fünf bis sieben Prozent senken. Die Verluste könnten im Falle einer technologischen Entkopplung sogar bis zu zwölf Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) betragen. 

Ein fairer und offener Handel hilft uns dabei, unsere Kernziele zu erreichen: 

Wettbewerbsfähigkeit: Ohne Handel keine Wettbewerbsfähigkeit. Handel hilft unseren Unternehmen, durch den Zugang zu rasch wachsenden Drittlandsmärkten zu expandieren und sich die Inputs zu attraktiven Preisen zu sichern. 

Sicherheit: In einer zunehmend volatilen Welt gibt uns Handel Sicherheit. Er stärkt unsere geopolitische Präsenz, schmiedet dringend benötigte Partnerschaften. Er macht Lieferketten widerstandsfähiger und hilft uns dabei, unsere wirtschaftliche Sicherheit zu verfolgen – durch einen besseren Zugang z.B. zu Energie und kritischen Rohstoffen und sinkenden Abhängigkeiten. 

Nachhaltigkeit: Handel ist für eine nachhaltige Zukunft unerlässlich. Er gewährleistet den Zugang zu sauberen Technologien, die wir für die Dekarbonisierung brauchen; er sichert die für den Übergang zu einer sauberen Wirtschaft erforderlichen Inputs und bietet eine Plattform für weltweit bessere Arbeits-, Umwelt- und Menschenrechtsstandards. Damit ist der Handel ein Multiplikator für Klimaschutz.

Unsere Strategie: Weltweites Engagement, regelbasierter Handel

Der feste Glaube an eine regelbasierte internationale Ordnung bleibt Kern der EU-Handelspolitik – gerade, wenn wie jetzt diese Ordnung in Frage gestellt wird. Als Gründungsmitglied und wichtiger Akteur in der Welthandelsorganisation (WTO) wird sich die EU weiter für transparente, faire und berechenbare Regeln einsetzen und sich um den Erhalt und eine Reform des multilateralen Handelssystems bemühen.

Mit Blick auf bilaterale Beziehungen ist unsere Priorität ein noch breiteres Spektrum von Industrie-, Entwicklungs- und Schwellenländern. Wir bauen unser globales Handelsnetz mit klaren Zielen und flexiblen, maßgeschneiderten Ansätzen aus, durch Freihandelsabkommen und anderen Formen handelspolitischen Engagements. 

Unser Netz von Handelsabkommen wurde kürzlich durch den Abschluss der Verhandlungen mit dem Mercosur und Mexiko gestärkt. Wir arbeiten auf die Ratifizierung hin und bringen Verhandlungen mit Indien, Indonesien, Thailand, den Philippinen, Malaysia und Australien voran. Das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Indien soll, so haben es im Februar Kommissionspräsidentin von der Leyen und Ministerpräsident Modi vereinbart, bis Ende des Jahres abgeschlossen sein.

Dazu kommen andere Formen des handelspolitischen Engagements, die es uns ermöglichen, Vereinbarungen zu bestimmten Themen innerhalb kürzerer Zeit zu treffen, beispielsweise das Abkommen über den digitalen Handel mit Singapur und Südkorea. Mit Japan konnten wir kürzlich ein Datenfluss-Abkommen abschließen. Wir werden die Investitionsmöglichkeiten in Partnerländern durch Abkommen über nachhaltige Investitionsförderung (SIFA) stärken, die über das mit Angola geschlossene Abkommen hinausgehen. Wir arbeiten am Rahmen dieser künftigen Abkommen und führen Sondierungsgespräche mit Ghana und der Elfenbeinküste. Wir wollen auch unser Netz von Abkommen über die gegenseitige Anerkennung weiter ausbauen, um die Handelskosten zu senken, die durch die Unterschiede in unseren rechtlichen Anforderungen entstehen. Und wir werden mit einer Reihe von Partnern saubere Handels- und Investitionspartnerschaften (Clean Trade and Investment Partnerships, CTIP) entwickeln, um Investitionen zu unterstützen und dazu beizutragen, die Versorgung von Rohstoffen, sauberer Energie und sauberen Technologien zu sichern. Die erste dieser Partnerschaften wird bereits mit Südafrika ausgehandelt.

Was unsere Beziehungen zu den Vereinigten Staaten betrifft, streben wir weiter eine kooperative Handelsbeziehung an, die die Bedeutung des transatlantischen Marktes für den Wohlstand der Menschen auf beiden Seiten des Atlantiks widerspiegelt. Unsere Interessen werden wir jederzeit verteidigen.

Wir bauen also unsere Partnerschaften auf der ganzen Welt aus, zugleich liegt der Schwerpunkt auf der Umsetzung dieser Abkommen. Sie bringen den größten Nutzen, wenn sie ordnungsgemäß umgesetzt werden. In einem globalen Umfeld, in dem Protektionismus zunimmt, haben wir unsere Durchsetzungsmaßnahmen mit der Unterstützung des „Chief Trade Enforcement Officer“ der Kommission bereits verstärkt.

Wir wollen auch sicherstellen, dass die Unternehmen in der EU, insbesondere die KMU, die Möglichkeiten der Abkommen optimal nutzen. Deswegen bieten wir die „Access2Market“-Instrumente an.[1] Sie geben den Unternehmen alle Informationen an die Hand, die sie im Handel mit Drittländern benötigen, z. B. über Zölle, Steuern, Verfahren, Formalitäten und Anforderungen oder Ursprungsregeln.

Natürlich wird unser Handel weiterhin von unseren Beziehungen zu den USA (unser größter Handelspartner) und China (unser drittgrößter Handelspartner) sowie von der zunehmend angespannten und komplexen Dynamik zwischen diesen beiden Ländern beeinflusst. 

Was unsere Beziehungen zu den Vereinigten Staaten betrifft, streben wir weiter eine kooperative Handelsbeziehung an, die die Bedeutung des transatlantischen Marktes für den Wohlstand der Menschen auf beiden Seiten des Atlantiks widerspiegelt. Unsere Interessen werden wir jederzeit verteidigen. 

Chinas Industriepolitik, die zu Überkapazitäten und unlauterem Wettbewerb in allen Sektoren des verarbeitenden Gewerbes führt, bleibt ein zentrales Anliegen. Nur über einen regelmäßigen Dialog können wir die Herausforderungen bewältigen, die sich aus unseren unterschiedlichen Wirtschaftssystemen ergeben, als auch globale Fragen von gemeinsamem Interesse erörtern. Wir konzentrieren uns auf Ergebnisse und nutzen bei Bedarf entschlossen unsere handelspolitischen Schutzinstrumente, um den EU-Markt zu schützen, Risiken zu mindern und zu diversifizieren. 

Ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Effizienz und Resilienz

In einer Zeit, in der der Handel zunehmend als geopolitisches Instrument eingesetzt wird, hat die EU ihre Verteidigungsfähigkeiten ausgebaut. Die handelspolitischen Schutzinstrumente der EU – Antidumping-, Antisubventions- und Schutzmaßnahmen – wurden modernisiert, um eine rasche und wirksame Reaktion auf unlautere Praktiken zu gewährleisten. In den vergangenen Jahren hat die Kommission jährlich rund 100 Untersuchungen durchgeführt und Ende 2023 waren 182 Maßnahmen in Kraft, mit denen fast eine halbe Million direkte Arbeitsplätze geschützt wurden.

Wir haben auch unsere Instrumente autonomer Maßnahmen aktualisiert und erweitert. Sie sind von zentraler Bedeutung, um unsere Ziele zu erreichen. Im Juli 2023 trat die Verordnung über drittstaatliche Subventionen in Kraft. Sie ermöglicht es der Kommission, durch ausländische Beihilfen verursachte Verzerrungen auf unserem Binnenmarkt zu untersuchen und abzumildern. Seit Dezember 2023 gibt es das Instrument gegen Zwangsmaßnahmen. Die EU kann damit entschlossen reagieren, wenn Mitgliedstaaten wirtschaftlich erpresst werden. 

Wir werden diese autonomen Instrumente konsequent und strategisch einsetzen. Wir wollen unsere europäischen Unternehmen vor unlauteren Handelspraktiken schützen und unsere wirtschaftliche Sicherheit garantieren, indem wir die EU vor den Risiken der Instrumentalisierung von Handel und wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen schützen, unsere Risikobewertung fortsetzen und entsprechende Risikominderungsmaßnahmen konzipieren.

Um den Entwicklungen in unserem internationalen Umfeld Rechnung zu tragen, werden wir diese Instrumente auch weiter aktualisieren, z.B. indem wir die laufende Überprüfung der Verordnung über das Screening ausländischer Direktinvestitionen abschließen und die Koordinierung der Ausfuhrkontrollen auf EU-Ebene verbessern. Wir werden auch unser Engagement für die wirtschaftliche Sicherheit mit gleichgesinnten Partnern wie Japan weiter verstärken. 

Fazit

Die EU tritt weiterhin für einen bilateralen und multilateralen regelbasierten Handel ein. Er bietet unseren Unternehmen die Sicherheit und Stabilität, um zu florieren. Wir sind und bleiben ein zuverlässiger und verantwortungsvoller Partner. In einer Welt, die zunehmend von einer Nullsummen-Mentalität geprägt ist, wird die EU Partnerschaften zum beiderseitigem Nutzen vorantreiben. Denn wir sind der festen Überzeugung, dass die Zusammenarbeit mit einer Vielzahl von Partnern der beste Weg ist, um den Wohlstand für die Europäerinnen und Europäer zu sichern. 

Barbara Gessler

leitet seit März 2024 die Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland. Sie arbeitet seit fast drei Jahrzehnten in den EU-Institutionen und im Privatsektor, mit Schwerpunkt auf Bildung und Kultur. Von 2004 bis 2009 leitete sie die Regionalvertretung der Kommission in Bonn.

[1] Siehe: https://trade.ec.europa.eu/access-to-markets/en/home (letzter Zugriff: 29. April 2025).

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Das Ende der regelbasierten Ordnung mit den USA
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