
Philippe Varin (ICC)
Multilateralismus und Handel
Ein Weg zu globalem Wohlstand und Klimaschutz
Als Präsident der ICC setze ich mich für eine Vision ein, in der Handel nicht nur wirtschaftliches Wachstum vorantreibt, sondern auch zur Lösung der dringendsten globalen Herausforderungen beiträgt. Als Vertreterin von über 45 Millionen Unternehmen in 170 Ländern ist die ICC seit Langem eine treibende Kraft des Welthandels. Unsere Incoterms erleichtern den reibungslosen Warenverkehr im Wert von über 17 Billionen US-Dollar pro Jahr und unser Internationaler Schiedsgerichtshof klärt Handelsstreitigkeiten in Milliardenhöhe. Doch unsere Rolle geht weit über diese Aufgaben hinaus. Heute stehen wir vor neuen Herausforderungen wie der Rückkehr des Protektionismus, der Dringlichkeit von Klimaschutzmaßnahmen und der digitalen Transformation des Handels – Themen, die nicht nur Unternehmen, sondern ganze Gesellschaften betreffen.
Die zunehmende Flut von Handelskonflikten
Der internationale Handel steht zunehmend unter Druck. Allein im Jahr 2023 wurden über 3.000 neue Handelsbarrieren eingeführt – das ist fünf Mal mehr als noch vor fünf Jahren. Geopolitische Spannungen, klimapolitische Maßnahmen und Bedenken hinsichtlich widerstandsfähiger Lieferketten befeuern eine neue Welle des Protektionismus, die jahrzehntelange wirtschaftliche Fortschritte gefährdet. Der CO₂-Grenzausgleichsmechanismus (CBAM) der Europäischen Union etwa hat Handelskonflikte ausgelöst, was die Spannungen zwischen Klimazielen und globalem Handel verdeutlicht.

„Wir streben das möglicherweise bedeutendste Handelsabkommen unserer Zeit an: eine grundlegende Reform des multilateralen Handelssystems.“
ICC-Präsident Philippe Varin
Die US-Regierung hat recht, wenn sie den Status quo im Welthandel hinterfragt – globale Regeln müssen an moderne wirtschaftliche und geopolitische Realitäten angepasst werden. Die entscheidende Frage ist jedoch, ob Zölle das effektivste Mittel dafür sind. Aus unserer Sicht braucht es einen strategischeren und grundlegenderen Ansatz. Wir streben das möglicherweise bedeutendste Handelsabkommen unserer Zeit an: eine grundlegende Reform des multilateralen Handelssystems. Dabei geht es nicht darum, die Welthandelsorganisation (WTO) als Institution zu erhalten – sondern darum, die Regeln des Welthandels zu modernisieren, um so den heutigen Herausforderungen besser gerecht zu werden.
Ohne eine koordinierte multilaterale Antwort droht nur eine weitere wirtschaftliche Fragmentierung. Die WTO spielt eine zentrale Rolle bei der Wahrung eines offenen, regelbasierten Handelssystems, doch sie muss dringend reformiert werden. Ihre Funktionen in der Streitbeilegung, bei Verhandlungen und der Überwachung von Handelspolitik müssen an die wirtschaftlichen Realitäten unserer Zeit angepasst werden.
Die Risiken sind enorm. Laut ICC-Analysen könnte der globale Handel ohne die WTO um 33 % einbrechen – mit besonders gravierenden Folgen für Länder des Globalen Südens. Die Reform der WTO dient also nicht nur ihrer Relevanz, sondern der Sicherung von Handel als Motor für wirtschaftliche Teilhabe, Stabilität und Armutsbekämpfung. In den letzten Jahrzehnten hat der Welthandel über zwei Milliarden Menschen aus der Armut befreit. Dieses Momentum dürfen wir nicht verlieren.
Handel als Katalysator für den Klimaschutz
Über wirtschaftlichen Wohlstand hinaus muss der Handel auch eine zentrale Rolle im Kampf gegen den Klimawandel spielen. Globale Lieferketten verursachen etwa 30 % der weltweiten CO₂-Emissionen – ihre Umgestaltung ist entscheidend, um die Ziele des Pariser Abkommens zu erreichen. Die ICC arbeitet aktiv daran, Handel und Nachhaltigkeit in Einklang zu bringen – von innovativen Rahmenwerken für grüne Handelsfinanzierung bis hin zum Einsatz für transparente und effektive Kohlenstoffmärkte.
Ein besonders vielversprechendes Projekt ist unsere Arbeit im Bereich nachhaltige Handelsfinanzierung. Bei jährlich über 10 Billionen US-Dollar an Handelsvolumen kommt Finanzinstitutionen eine besondere Bedeutung bei der Umstellung auf eine klimafreundliche Wirtschaft zu. Unsere Prinzipien für nachhaltigen Handel bieten Banken und Unternehmen ein dringend benötigtes Bewertungsraster, um die Nachhaltigkeit von Transaktionen zu beurteilen – ein Schritt gegen den bisherigen Mangel an Standards. Damit erschließen wir das Potenzial grüner Finanzierungen und sorgen dafür, dass der Handel die Klimaziele unterstützt, statt ihnen entgegenzuwirken.
Kohlenstoffmärkte sind ebenfalls ein wichtiges Instrument, um Investitionen der Privatwirtschaft in Klimaschutz zu mobilisieren. Die ICC spielt eine zentrale Rolle bei der Förderung freiwilliger CO₂-Märkte, insbesondere im Rahmen der Umsetzung von Artikel 6 des Pariser Abkommens, der den internationalen CO₂-Handel ermöglicht. Damit diese Märkte Wirkung zeigen, müssen sie transparent, glaubwürdig und breit zugänglich sein. Unser Einsatz für pragmatische Lösungen – etwa freiwillige CO₂-Abgaben oder innovative Finanzierungsmodelle – zeigt, wie Unternehmen beim Klimaschutz vorangehen können.
Die digitale Revolution des Handels
Auch die Digitalisierung des Handels ist ein entscheidender Hebel für Fortschritt. Trotz rasanter technologischer Entwicklungen sind heute noch 98 % aller Handelsdokumente papierbasiert – das führt zu Ineffizienz, höheren Kosten und unnötigen Emissionen. Die Digital Standards Initiative (DSI) der ICC treibt die Modernisierung des Handels durch digitale Standards wie elektronische Frachtbriefe (eBL) und andere Tools voran. Diese senken Emissionen, vereinfachen Abläufe und erhöhen die Transparenz.
Die Vorteile der Digitalisierung gehen weit über Effizienz hinaus: Kompatible digitale Systeme ermöglichen es Unternehmen, ihre CO₂-Bilanzen nachzuverfolgen und zu reduzieren – besonders in CO₂-intensiven Branchen wie Stahl oder Automobil, wo klimaneutrale Lieferketten eine große Herausforderung darstellen. Die Nutzung digitaler Handelslösungen steigert nicht nur die Wettbewerbsfähigkeit, sondern leistet auch einen wertvollen Beitrag zu den globalen Klimazielen.
Die Zukunft gestalten: die Rolle von Wirtschaft und Politik
Die Privatwirtschaft spielt eine Schlüsselrolle beim Aufbau einer nachhaltigen globalen Wirtschaft. Unternehmen sind keine passiven Teilnehmer des Welthandels – sie sind aktive Gestalter des Wandels. Die Arbeit der ICC zeigt das enorme Potenzial unternehmerischer Führung beim Umgang mit globalen Herausforderungen.
Doch Unternehmen können diesen Wandel nicht allein stemmen. Regierungen müssen klare Rahmenbedingungen und Anreize schaffen, die nachhaltige Investitionen und Innovationen fördern. Nur durch eine enge Zusammenarbeit zwischen öffentlicher Hand und Privatwirtschaft lassen sich die nötigen Finanzmittel mobilisieren, um Lösungen im großen Maßstab – vor allem in Ländern des Globalen Südens – umzusetzen.
Die Technologien zur Bekämpfung des Klimawandels existieren bereits oder werden in den nächsten fünf bis zehn Jahren verfügbar sein. Die eigentliche Herausforderung liegt darin, geeignete Finanzierungsmodelle zu schaffen, um diese Technologien weltweit einzusetzen. Die ICC setzt sich gemeinsam mit Regierungen, Unternehmen und multilateralen Organisationen dafür ein, dass Handel die tragende Kraft des Wandels bleibt – für Frieden, Wohlstand und Chancen für alle.
Mit einer Reform der WTO, der Verknüpfung von Handel und Klimaschutz sowie der Digitalisierung des Handels können wir eine widerstandsfähigere und nachhaltigere Weltwirtschaft schaffen. Die Aufgaben auf dem Weg vor uns sind komplex – wenn wir uns gemeinsam dafür einsetzen, können wir den Handel zum Motor positiver globaler Veränderung machen.
Über den Autor
Philippe Varin ist Präsident der Internationalen Handelskammer (ICC), der weltweit größten Wirtschaftsorganisation mit über 45 Millionen Mitgliedern in 170 Ländern. Der französische Industrielle ist bekannt für seine Führungs- und Leitungspositionen in großen Unternehmen wie PSA Peugeot Citroën, Areva und Suez.
Header © Thomas Vogel – IStock ID: 1136008937

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