Boykotts, Ein- und Ausfuhrverbote, Knappheit von Energie und Logistik, Sanktionen, Transportbeschränkungen, Unternehmensaufgaben – die Liste potenzieller Störquellen für geregelte Geschäftsabläufe wird seit Februar 2022 stetig länger.[1] Aufgrund der global vernetzten Liefer- und Wertschöpfungsketten sind nicht nur Unternehmen mit operativem Geschäft in Russland oder der Ukraine von diesen Störungen betroffen. Vielmehr geraten auf der ganzen Welt Betriebsabläufe sektorübergreifend ins Stocken, was unweigerlich – meist zeitlich nachgelagert – auch zu Streitigkeiten führt.
Für die betroffenen Unternehmen ist es daher wichtig, sich möglichst frühzeitig mit den anwendbaren Streitbeilegungsmechanismen und etwaigen Besonderheiten auseinanderzusetzen. Nur wenn diese bekannt sind, können die eigenen Erfolgsaussichten belastbar eingeschätzt und Maßnahmen eingeleitet werden, um die eigene Position möglichst effektiv zu schützen.
Die grundlegendste Unterscheidung in der Nomenklatur potenzieller Streitigkeiten ist die zwischen sog. Handelsrechtlichen Streitigkeiten, in denen zwei (oder mehrere) Unternehmen über Rechte und Pflichten aus deren Geschäftsbeziehung streiten und Streitigkeiten zwischen einem Unternehmen oder einer natürlichen Person und dem Gaststaat einer getätigten Auslandsinvestition (sog. Investor-Staat-Streitigkeiten).
Handelsrechtliche Streitigkeiten
Während in Verträgen zwischen zwei deutschen Unternehmen noch häufiger Gerichtsstandsvereinbarungen zu finden sind, die eine Entscheidung über etwaige Streitigkeiten deutschen Gerichten zuweisen, werden im grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr zumeist Schiedsklauseln vereinbart. Grund dafür ist zum einen der Wunsch beider Parteien nach einer unabhängigen Entscheidungsinstanz. Die staatlichen Gerichte der jeweiligen Gegenseite werden selbst in Ländern mit geringer Korruptionsanfälligkeit regelmäßig als jedenfalls potenziell voreingenommen wahrgenommen. Zudem bietet die Schiedsgerichtsbarkeit gerade in internationalen Konstellationen auch prozessuale Vorteile gegenüber der staatlichen Gerichtsbarkeit. So sind Schiedssprüche zum Beispiel international wesentlich einfacher vollstreckbar als Urteile nationaler Gerichte.[2] Außerdem kann das schiedsrichterliche Verfahren, einschließlich der Verfahrenssprache, durch die Parteien mit Hilfe erfahrener Schiedsexpert:innen maßgeschneidert an die jeweiligen Bedürfnisse und Wünsche angepasst werden. Die Parteien können ferner eine vertrauliche Durchführung vereinbaren. Insbesondere für komplexe Verfahren und bei Berücksichtigung des mehrstufigen Instanzenzugs staatlicher Gerichte sind Schiedsverfahren auch meist kostengünstiger und schneller beendet als Verfahren vor staatlichen Gerichten.
Inhaltlich drehen sich Streitigkeiten aktuell oft um die (angebliche) Unmöglichkeit vertragsgemäßer Erfüllung vor Kriegsausbruch geschlossener Verträge. Bei Verträgen, die deutschem Recht unterliegen, sind insbesondere die Grundsätze zum Ausschluss der Leistungspflicht gem. §§ 275 ff. BGB und zur Störung der Geschäftsgrundlage gem. §§ 313 ff. BGB relevant. Vertragsrechtlich haben sog. Force-Majeure-Klauseln, die bereits im Rahmen der Corona-Pandemie besondere Wichtigkeit erlangt haben, erneut eine hervorgehobene Rolle.
Unternehmen sollten ihre Verträge möglichst frühzeitig – auch unabhängig vom Ukraine-Russland-Krieg – hinsichtlich der vereinbarten Streitbeilegungsmechanismen prüfen und idealerweise bevor ein konkreter Streit entsteht auf eine Harmonisierung hinwirken.
Besondere prozessuale Herausforderungen bestehen bei handelsrechtlichen Streitigkeiten teilweise durch unterschiedliche Streitbeilegungsklauseln entlang der Liefer- und Wertschöpfungskette. Es ist leider nicht unüblich, dass die Verträge eines Unternehmens mit dessen Zulieferern einen anderen Streitbeilegungsmechanismus vorsehen als die Verträge des Unternehmens mit den Abnehmern seiner (darauf aufbauenden) Produkte. Ein konkretes Beispiel ist es etwa, wenn der Vertrag eines Tier-2-Lieferanten mit seinem Tier-3-Lieferanten eine Schiedsklausel vorsieht, der Vertrag mit dessen Tier-1-Abnehmer hingegen eine Gerichtsstandsvereinbarung zugunsten nationaler Gerichte oder eine Schiedsklausel mit Verweis auf eine andere Schiedsinstitution enthält. In diesen Fällen besteht ein erhöhtes Risiko voneinander abweichender Entscheidungen, da eine forumsübergreifende Streitverkündung nicht vorgesehen ist.[3] Unternehmen sollten ihre Verträge daher möglichst frühzeitig – auch unabhängig vom Ukraine-Russland-Krieg – hinsichtlich der vereinbarten Streitbeilegungsmechanismen prüfen und idealerweise bevor ein konkreter Streit entsteht auf eine Harmonisierung in dieser Hinsicht hinwirken. Schiedsvereinbarungen können zum Beispiel auch nach Abschluss eines Vertrags und ohne inhaltliche Änderung dessen geschäftlichen Regelungsgehalts noch ergänzend abgeschlossen oder angepasst werden.
Besondere Risiken bei Beteiligung russischer Parteien
Prozessuale Besonderheiten bestehen zudem bei Verfahren mit Beteiligung russischer Parteien. Bereits im Juni 2020 hat Russland auf nationaler Ebene ein Gesetz erlassen, das vorsieht, dass von Sanktionen betroffene Unternehmen und Bürger:innen ausschließlich der Zuständigkeit russischer Handelsgerichte unterliegen.[4] Das Gesetz sieht zudem vor, dass russische Unternehmen vor russischen Gerichten eine Unterlassungsverfügung beantragen können, die es einer anderen Partei untersagt, einen Rechtsstreit oder ein Schiedsverfahren in anderen Foren einzuleiten oder fortzusetzen.[5]
Nach der Wertung vieler Rechtsordnungen (und Schiedsgerichte) ist eine solche Regelung übergriffig und ohne unmittelbare Wirkung außerhalb Russlands. Die Wirksamkeit der zugrunde liegenden Schiedsabreden und die Durchführbarkeit von Schiedsverfahren werden durch sie daher rechtlich meist nicht gehindert. Gleichwohl ist absehbar, dass eine solche Verfügung zu zusätzlichen Streitpunkten – und damit Mehraufwand – im Schiedsverfahren führen wird. Parteien, die operative Geschäfte oder Personal und Vermögenswerte in Russland haben, sind ferner der Gefahr von Repressionen in Russland ausgesetzt. Unter anderem sieht das Gesetz vor, dass russische Gerichte den betroffenen russischen Parteien Schadensersatzansprüche gegen die jeweilige ausländische Partei zusprechen können. Diese könnten in Russland selbst und ggf. auch in eng mit Russland verbundenen Staaten vollstreckt werden. Da auch eine Vollstreckung in Russland verhindert werden kann, sollte bereits vor Einleitung eines Schiedsverfahrens überprüft werden, in welchen weiteren Ländern vollstreckungsfähige Vermögenswerte der anderen Partei vorhanden sind und ggf. frühzeitig Sicherungsmaßnahmen eingeleitet werden.
Investor-Staat-Streitigkeiten
Unternehmen mit operativem Geschäft in Russland sind zudem oft im Spannungsfeld zwischen Sanktionen, politischer Verantwortung und drohenden Repressalien des russischen Staats gefangen. Russland übt auf verschiedenste Weise erheblichen Druck auf ausländische Investoren sowie deren lokale Mitarbeiter:innen aus und greift verstärkt auch aktiv in deren Betrieb vor Ort ein. Im August 2022 hat Russland etwa ein Dekret erlassen, das bestimmten Unternehmen im Energie- und Finanzbereich aus sog. unfreundlichen Ländern den Ausstieg aus ihrem Russland-Geschäft untersagt.[6] Ebenso hat Präsident Putin diverse Verstaatlichungen angekündigt bzw. bereits in die Wege geleitet, darunter auch das Sachalin-2-Projekt,[7] an dem u.a. Shell beteiligt ist.[8]
Grundsätzlich können sich ausländische Investor:innen bei solchen Eingriffen nur nach den Gesetzen des Gaststaats und vor dessen Gerichten hiergegen zur Wehr zu setzen. Leider ist dieser „Schutz“ oft unzureichend. Dessen Inanspruchnahme kann sogar gefährlich sein, wie auch die gegenwärtige Situation verdeutlicht.
Zurückgehend auf die Initiative der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1959 haben Staaten daher über lange Zeit eine Vielzahl bilateraler und multilateraler völkerrechtlicher Abkommen geschlossen, in denen sie sich gegenseitig versprechen, Investoren des jeweils anderen Vertragsstaats im Einklang mit rechtsstaatlichen Mindeststandards zu behandeln. Zu den wichtigsten Schutzstandards gehören dabei die Gebote der Inländergleichbehandlung, fairer und gerechter Behandlung der ausländischen Investoren sowie Enteignungen nur im öffentlichen Interesse und gegen unverzügliche Zahlung einer angemessenen, werthaltigen und frei transferierbaren Entschädigung vorzunehmen. Darüber hinaus bieten Investitionsschutzabkommen auch regelmäßig Schutz gegen willkürliches Verwaltungshandeln, den Bruch staatlicher Zusagen (Vertrauensschutz) sowie unverhältnismäßige Eingriffe in den Geschäftsbetrieb. Die entsprechenden Rechte können regelmäßig direkt von dem ausländischen Investor vor einem unabhängigen Schiedsgericht durchgesetzt werden.
Bedauerlicherweise wurden diese völkerrechtlichen Abkommen in den letzten Jahren vor allem von der Europäischen Kommission und bestimmten NGOs als entbehrliche Sonderrechte für Unternehmen bekämpft. Verschiedene Staaten, auch Deutschland, haben auf diesen Druck hin die Anzahl ihrer Abkommen reduziert. Weitere Abkommen, auch solche, die konkret den Energiebereich betreffen, sollen folgen. Es ist daher wichtig, schnellstmöglich verfügbare Optionen zu prüfen und rechtswahrende Maßnahmen einzuleiten. Die noch bestehenden Abkommen können so ein wertvoller Notfallschutzschirm für betroffene Unternehmen sein. Aktuell unterhält Russland noch Abkommen mit mehreren Staaten, darunter Deutschland, Frankreich und Großbritannien.[9] Unternehmen wie ExxonMobil, die von den russischen Maßnahmen besonders stark betroffen sind, bereiten Berichten zufolge bereits Schiedsverfahren gegen Russland auf Grundlage des Völkerrechts vor. Diese böten sodann auch eine der wenigen Möglichkeiten, eine (politisch sehr wichtige) Feststellung der Völkerrechtswidrigkeit der russischen Maßnahmen zu erwirken.
Unter Umständen besteht auch die Möglichkeit, Russland unter diesen völkerrechtlichen Abkommen für Handlungen zur Verantwortung zu ziehen, die nach hiesigem Verständnis auf dem Staatsgebiet der Ukraine erfolgen. Zwar schützen Investitionsschutzabkommen grundsätzlich nur Investitionen im Hoheitsgebiet des jeweiligen Gaststaats, in einer Reihe von Verfahren bzgl. Investitionen auf der von Russland annektierten Krim haben internationale Schiedsgerichte jedoch entschieden, dass Russland sich aufgrund seiner eigenen Handlungen in diesem Gebiet auch dort so behandeln lassen muss, als wäre die Krim tatsächlich russisches Hoheitsgebiet.[10]
Politisch heikel: Eingeschränkter Zugang zur Justiz für russische Parteien
Die diversen Sanktionen und andere Maßnahmen der internationalen Staatengemeinschaft erfüllen ohne Zweifel eine wichtige Funktion im Ukraine-Russland-Krieg. Gleichzeitig darf aber nicht in Vergessenheit geraten, dass jeder Partei der Zugang zu einem funktionierenden Rechtssystem ermöglicht werden muss. Wird dieser verhindert, ist dies mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht vereinbar. Eine Reihe der staatlichen Maßnahmen erschweren den Zugang für russische Parteien jedoch erheblich oder machen ihn sogar faktisch unmöglich. So ist es zum Beispiel regelmäßig erforderlich, dass russische Parteien Zahlungen im Zusammenhang mit rechtlichen Streitigkeiten leisten, z.B. für Anwalts- oder Gerichtsgebühren. Rechtlich ist dies aber oft nicht ohne erhebliches Risiko für alle Beteiligten, auch für indirekte Empfänger:innen wie Anwält:innen oder (Schieds-)Richter:innen, möglich.
Klarstellende Ausnahmeregelungen zu den umfassenden Sanktionen und ähnlichen staatlichen Maßnahmen sind deshalb in Bezug auf den Justizgewährungsanspruch besonders wichtig. Leider besteht insoweit aber immer noch erhebliche Unsicherheit. Da sich die Maßnahmen in der Regel auch unterscheiden, muss im Einzelfall stets sorgfältig geprüft werden. Zu begrüßen sind klare Regelungen wie sie jüngst auch in der neuen Fassung der EU-Verordnung Nr. 833/2014vorgesehen sind. Danach sind Transaktionen mit bestimmten staatseigenen Unternehmen zu genehmigen, „die zur Gewährleistung des Zugangs zu Gerichts-, Verwaltungs- oder Schiedsverfahren in einem Mitgliedstaat oder für die Anerkennung oder Vollstreckung eines Gerichtsurteils oder eines Schiedsspruchs aus einem Mitgliedstaat unbedingt erforderlich sind, und wenn diese Transaktionen mit den Zielen dieser Verordnung und der Verordnung (EU) Nr. 269/2014 im Einklang stehen“.[11] Weitergehend muss aber auch sichergestellt werden, dass diese Regelungen klar und unkompliziert umgesetzt werden.
Fazit
Auch wenn der Ukraine-Russland-Krieg Herausforderungen für Unternehmen mit sich bringt und die internationale Streitbeilegung vor neue Aufgaben stellt, bieten internationale Schiedsverfahren Unternehmen weiterhin die Möglichkeit, Streitigkeiten in einem geordneten, rechtstaatlichen Verfahren beizulegen. Völkerrechtliche Investitionsschutzverträge können unter Umständen zudem als Notfallschutzschirm gegen russische Maßnahmen genutzt werden und einen „geordneten Rückzug“ ermöglichen. Betroffene Unternehmen sollten sich frühzeitig an erfahrene Schiedsexpert:innen wenden, um Vor- und Nachteile der bestehenden Möglichkeiten abzuwägen und mögliche Verfahren bestmöglich vorzubereiten.
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