„Jeder weiß, wie komplex internationaler Handel heute ist, wenn man sich bewusst macht, dass für eine einzelne Transaktion rund 30 Seiten Papier ausgedruckt werden müssen“, erklärte Dr. Holger Bingmann, Präsident von ICC Germany, zur Eröffnung des ICC Supply Chain Forums Ende März in Berlin. Rechnet man das auf das globale Handelssystem hoch, ergibt es einen Wert von rund vier Milliarden Dokumenten. Eine umfassende Digitalisierung der Lieferketten könnte diese Zahl drastisch senken und damit Prozesse nicht nur sicherer und resilienter machen, sondern auch den Alltag aller Akteur:innen entlang der Lieferketten erleichtern. „Digitalisierung ist der Schlüssel zur Erschließung eines größeren Potenzials“, ist auch Holger Bingmann überzeugt. Warum die Digitalisierung des Außenhandels so dringend gebraucht wird, wie sie ausgestaltet werden kann und welche Aspekte berücksichtigt werden müssen, diskutierten Expert:innen aus Politik und Wirtschaft auf der dreitägigen Veranstaltung in Berlin und digital.
„Je mehr Regulierung desto besser?“
Das Forum wurde in Berlin im Haus der Deutschen Wirtschaft eröffnet mit einer Podiumsdiskussion zu der Frage: „Regulierung des internationalen Handels – je mehr, desto besser?“, moderiert von Dr. Volker Treier, Außenwirtschaftschef und Mitglied der Hauptgeschäftsführung der DIHK. Das hochkarätig besetzte Podium sprach sich dafür aus, dass die Regulierung des internationalen Handels ganzheitlich gestaltet werden sollte. Für Unternehmen bedeutet das: Sie müssen Verantwortung für ihre Lieferketten übernehmen, ihre Produzent:innen kennen, Transparenz schaffen, Informationen verfügbar machen und so viele Kennzahlen wie möglich nachhaltiger gestalten. Die entsprechenden gesetzlichen Regelungen in Deutschland sowie Europa sollten derweil besser koordiniert werden. Es brauche gemeinsame Standards, damit sich Vorschriften nicht überschneiden oder widersprechen – so dass die Praxis damit arbeiten kann und Optimierungspotenzial wirklich gehoben wird. Die Sprecher:innen machten deutlich, dass Unternehmen und Regierungen im Aufbruch sind.
Das Podium diskutierte auch die vielfältigen Anforderungen, unter deren Einfluss der internationale Handel derzeit agieren muss. Dazu gehört das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz. Dr. Marion Jansen, Director of the Trade and Agriculture Directorate bei der OECD, wies darauf hin, dass Regularien, welche dieses Gesetz für Deutschland verbindlich festlegt, auch von der OECD schon länger mit den Mitgliedsländern vereinbart sind – wenn auch nicht verpflichtend. „Einheitliche Regelungen helfen allen“, bekräftigte sie und plädierte für einen konstruktiven Ansatz: „Aber sollten wir nicht eher, anstatt negativ und ausgrenzend zu denken, mehr Handel mit denjenigen treiben, die bereit sind, mit uns auf der Grundlage unserer gemeinsamen Standards und Werte zusammenzuarbeiten?“.
Handel auf ein neues Level heben
Auf der Bühne saßen weiterhin Niels Annen, Parlamentarischer Staatssekretär des Bundesministerins für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Jürgen Lindenberg, Managing Director der Lindy Group und Erster Vizepräsident der IHK Rhein-Neckar, und Präsidentin der ICC María Fernanda Garza. Letztere sagte: „Wir befinden uns im Moment an einem Scheideweg im internationalen Handel – und damit in einer ähnlichen Situation wie zur Zeit der Gründung der ICC im Jahr 1919.“ Sie sei aber optimistisch: „Denn wir haben heute die Möglichkeit, den internationalen Handel trotz aller Herausforderungen mithilfe der Digitalisierung inklusiver und nachhaltiger zu gestalten und auf ein neues Level zu heben.“
Auf die Frage, wo Regulierung sinnvoll sei oder wo sie auch ein Hindernis sein könne, antwortete Garza: „Eins der Gründungsprinzipien der ICC ist, dass wir sehr stark an Autoregulation glauben, und dass diese funktioniert. Dafür sind die Incoterms ein sehr gutes Beispiel. Diese internationalen Regeln, die wir in unserem täglichen Geschäft nutzen, werden von denen kreiert, die Handel treiben und nutzen, und durch sie auch kontinuierlich weiterentwickelt.“ Gleichzeitig müsse man akzeptieren, dass der Handel heute mehr Regulation erfordere. Sie appellierte daran, dabei insbesondere kleine Unternehmen nicht zu überfordern und zu verlieren. „Sie können die hohen Anforderungen, welche von der EU, den USA und durch Handelsabkommen an sie gestellt werden, oftmals kaum erfüllen, weil ihnen die Ressourcen dafür fehlen, unter anderem was Finanzierung betrifft.“
Menschenrechte und Klimaschutz berücksichtigen
Abkommen wie das mit den Mercosur-Staaten können dabei helfen. Dr. Christian Forwick, Ministerialdirigent des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz, erklärte, dass sich seit der politischen Grundsatzeinigung 2019 viel in der Welt verändert habe: „Wir haben heute einen anderen geopolitischen Blick auf die Welt. Vor diesem Hintergrund versuchen wir umso mehr, Handelsregulierung gemeinsam mit unseren Partnern zu gestalten. Denn sowohl die Mercosur-Staaten als auch China sind sehr wichtige Player und Partner, was Handel und Investitionen anbelangt. Wir streben Handelsbeziehungen von sehr hoher Qualität an, von denen die beteiligten Länder profitieren.“ Dabei spiele Nachhaltigkeit eine sehr große Rolle: „Wir wollen Handel treiben, aber wir wollen dabei auch Menschenrechte, gute Arbeitsbedingungen und Klimaschutz berücksichtigen.“ Derzeit laufen laut Forwick die Feinabstimmungen, um das Abkommen Mercosur in ausgewogener Form bald Realität werden zu lassen.
An den folgenden beiden Tagen des ICC Supply Chain Forums wurden in Online-Workshops unter der Überschrift „International Trade going Digital“ weitere Aspekte der Digitalisierung von Lieferketten diskutiert. So berichtete beispielsweise Benjamin Brake, Abteilungsleiter für Digital- und Datenpolitik im Bundesministerium für Digitalisierung und Verkehr, in dem Workshop zu „Digital Trade for Sustainability and Climate Action“, wie die Bundesregierung im Rahmen ihrer Digitalstrategie die Entwicklung von globalen Standards für die Digitalisierung des internationalen Handels unterstützen will. Hier wurde auch einmal mehr deutlich, welche Bedeutung digitale Werkzeuge für den internationalen Handel und dessen Finanzierung haben. Um dem Klimawandel die Stirn zu bieten, braucht es eine breite Palette an Lösungen mit Konzentration auf Nachhaltigkeit, evidenzbasierte Entscheidungsfindung, Standardisierung und Kooperation.
Hunderttausende Artikel transparent machen
Unter den Sprecher:innen des Forums waren auch Vertreter:innen von Unternehmen, wie Andreas Hubert, Group CIO der Adidas Group, der während der Runde zu „Digitalization for Human Rights“ die vielfältigen Anforderungen aufzeigte, welche gesetzliche Regelungen, wirtschaftliche Herausforderungen sowie Kund:innen stellen: „Wir müssen in Zukunft eine Vielzahl von Berichten über nicht-finanzielle Informationen zu einer Vielzahl von Datenpunkten erstellen, die von unabhängigen Stellen überprüft und abgesichert werden müssen.“ Diese Herausforderung kennen viele große Unternehmen: Sowohl die unterschiedlichen Datenquellen als auch die große Vielfalt an Technologieoptionen verstärken die Komplexität und fehlende Standards erhöhen sowohl das nötige Arbeitsvolumen als auch die Kosten. „Ich glaube fest, dass Zusammenarbeit und Standardisierung der Schlüssel zum Erfolg in unserer Branche sind“, sagt Andreas Hubert.
Bei allem Aufwand, den die Digitalisierung bedeutet, sind die Vorteile nicht zu vergessen: Digitale Prozesse können Kosten sparen, Prozesse vereinfachen, den Druck durch den Fachkräftemangel senken und Kreativität freisetzen. Deutlich wurde aber auch: Die Digitalisierung kann immer nur ein Werkzeug und Hilfsmittel sein: Woran es niemals fehlen darf, ist persönliches Engagement.
Den Abschluss des Forums bildete der Workshop „Paperless Trade and Beyond“ unter Leitung von Dr. David Saive, Special Advisor International Trade, Finance & Digitalization bei ICC Germany, und Philipp Reusch von Reuschlaw. Sie analysierten mit ihren Gästen, welche Potenziale die Verknüpfung digitaler Datensätze bieten, um Geschäftsmodelle im internationalen Handel zu optimieren und neue zu schaffen. Für die Zukunft sehen sie verschiedene Szenarien: Sie wünschen sich ein userfreundliches System, wie wir es heute von Online-Banking und anderen digitalen Alltagslösungen kennen – und erwarten eine ähnlich schnelle, kontinuierliche Weiterentwicklung der entsprechenden Technologien. Sie rechnen mit der Abbildung des kompletten Lieferprozesses als „digital Twin“ oder einer neuen Standardlösung eines „Big Players“. Spannende Aussichten – mit viel Potenzial!
Juliane Gringer ist Diplom-Journalistin und arbeitet als freie Journalistin und Autorin.
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