Olaf Guttzeit (UnternehmensForum)

Noch viel Luft nach oben: Inklusion in Unternehmen

Eine Standortbestimmung


Inklusion ist seit 2009 in aller Munde und auch in der deutschen Gesetzgebung verankert. Mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention ist klar, dass Inklusion, also die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in allen Bereichen der Gesellschaft, ein Menschenrecht ist. Das gilt auch für das Arbeitsleben. Wie ist der Stand heute? Was können Unternehmen für mehr Inklusion tun?



Seit 2009 ist die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in Deutschland ratifiziert und in geltendes Recht umgesetzt. Der Rechtsrahmen ist somit klar: Inklusion ist die Maßgabe – und das in allen Bereichen der Gesellschaft. Bereits 2011 haben sich Unternehmen auf den Weg gemacht und eigene Aktionspläne entwickelt.

Zunächst war es notwendig, den Begriff „Inklusion“ auf den betrieblichen Alltag zu projizieren. Dabei werden zwei Dimensionen klar: Zum einen braucht es eine Stärkung des Gedankens eines „Universal Design, Design for All“; zum anderen beschreibt der Begriff „Inklusion“ aber auch eine Kulturdimension. Gemeinsame oder gleichberechtigte Teilhabe ist möglich, wenn die Rahmenbedingungen im Hinblick auf die Zugangsmöglichkeiten passen und wenn eine Kultur vorherrscht, die Unterschiedlichkeit als Mehrwert ansieht. Dabei gilt es, den „Defizit-Ansatz“ zu überwinden und auf die Stärken zu schauen.

UN-Staatenprüfung: Ziel noch nicht erreicht

14 Jahre später ist der Blick auf den Stand der Inklusion etwas ernüchternder, wenngleich auch vieles angegangen worden ist. Im Sommer dieses Jahres wurde der Stand der Umsetzung in Deutschland durch den UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen geprüft. Das Ergebnis: Das Thema Behinderung ist noch nicht in allen staatlichen Stellen verankert. Statt eines menschenrechtlichen Modells von Behinderung, wird in vielen Rechtsgebieten des Bundes und der Länder noch von einem medizinischen Modell gesprochen. Die Definition von „Behinderung“ in Gesetzen und Richtlinien müsse Deutschland mit den allgemeinen Grundsätzen und Bestimmungen der UN-BRK in Einklang bringen, so eine der Handlungsempfehlungen des Fachausschusses.

Auch in puncto Inklusion auf dem Arbeitsmarkt zeigte sich der Ausschuss besorgt: Hier sei noch Luft nach oben, bedenklich sei zudem die hohe Anzahl von Menschen, die in Werkstätten für behinderte Menschen arbeiten. Fazit: Der mit der UN-BRK angestrebte Paradigmenwechsel sei noch nicht vollzogen – statt als Ausdruck von Vielfalt menschlichen Lebens werde Behinderung noch oft als Defizit betrachtet.

Sozialpartnervereinbarung gibt Orientierung

Auch in den Unternehmen hat das Thema Inklusion in den vergangenen Jahren Fahrt aufgenommen. Dabei haben die Aspekte Fachkräftesicherung im demografischen Wandel und der stete Bedeutungszuwachs von Vielfalt als Wettbewerbsfaktor eine entscheidende Rolle gespielt. Mittlerweile haben sich Erfolgsfaktoren herauskristallisiert, wie Unternehmen Inklusion nachhaltig voranbringen und damit die UN-BRK umsetzen können.

Ein Element ist dabei die Zusammenarbeit der Sozialpartner: Um den Ausbau von Inklusion in Unternehmen zu fördern, haben der Arbeitgeberverband und die Gewerkschaft Chemie (BAVC bzw. IGBCE) bundesweit die erste Sozialpartnervereinbarung Inklusion verabschiedet. Dieses starke Bekenntnis zu Inklusion gibt Orientierung und soll Aktivitäten in Unternehmen der Branche anstoßen. Das Übereinkommen macht vor allem zwei Dinge deutlich: Inklusion zielt auf eine neue Haltung – und: Kulturveränderung gelingt nur gemeinsam. Die Abmachung bildet somit die Grundlage für gemeinsame Vereinbarungen in den Unternehmen, seien es Inklusionsvereinbarungen oder Aktionspläne, Verständigungen auf konkrete Ziele und Maßnahmen, die sich an den Bedarfen und Möglichkeiten der einzelnen Unternehmen orientieren.

Aktionspläne in Unternehmen

Gute Absichten sind von Vorteil, in der Regel aber erst einmal nicht nachhaltig. Unternehmen, die die Ausbildung oder die Einstellung von Menschen mit Behinderung ebenso wie die Weiterbeschäftigung von leistungsgewandelten Mitarbeitenden implementieren und strategisch nachverfolgen wollen, brauchen dazu Instrumente. Aktionspläne zur Umsetzung der UN-BRK haben sich hier als erfolgreich erwiesen. 

Der Aktionsplan von Boehringer Ingelheim bietet hier aus heutiger Sicht ein Grundlagenwerk. Inzwischen sind einige Unternehmen dem Beispiel gefolgt. Dass Inklusion eine kontinuierliche Aufgabe ist, machen manche Unternehmen auch dadurch deutlich, dass sie Folgevereinbarungen getroffen haben: Im Dezember 2023 wird z.B. die Commerzbank eine Version 2.0 veröffentlichen.

Der Erfolg von Aktionsplänen in der betrieblichen Praxis umfasst dabei mehrere Ebenen: Schon mit der gemeinsamen Formulierung von Zielen und konkreten Maßnahmen zur Erreichung dieser Ziele beginnt ein Sensibilisierungs- und Veränderungsprozess. Voraussetzung ist eine Management-Entscheidung und die Einbindung der Führungsebene. Aber um das Thema Inklusion dauerhaft präsent zu halten, ist es hilfreich ein internes Team von Funktionsträger:innen und betroffenen Personen sowie engagierten „Allies“ zusammenzustellen. Zentrale weitere Maßnahmen vieler Aktionspläne sind zudem die Zusammenarbeit mit Organisationen und spezifischen Dienstleistern wie Berufsbildungswerken sowie kontinuierliche Maßnahmen für eine gezielte interne Bewusstseinsbildung und Öffentlichkeitsarbeit. Die Umsetzungsmechanismen in den Unternehmen sind dabei sehr unterschiedlich.

Kennzahlen für Inklusion implementieren

Eine Herausforderung stellt häufig die Messbarkeit von Veränderung, die Wirkungsmessung, dar. Doch Nachhaltigkeit erfordert die Überprüfung von Entwicklungen und deren Steuerung. Die Vereinbarung von Kennzahlen und KPIs (Key Performance Indicators) können dabei helfen. Neben der Beschäftigtenquote sind es vor allem etablierte Berichtsprozesse oder Richtlinien sowie standardisierte Weiterbildungen für Führungskräfte oder Beratungen für Menschen mit Behinderungen, die den Grad der inklusiven Aufstellung im Unternehmen aufzeigen. Kulturveränderung wird in einigen Unternehmen über eine Mitarbeitenden-Befragung visualisiert.

Dass Inklusion in Unternehmen aller Branchen und Größenordnungen Teil des betrieblichen Alltags geworden ist, machen auch die Preisträger:innen des „Inklusionspreises für die Wirtschaft“ deutlich: Die Anzahl der sich bewerbenden Unternehmen hat zum einen in den letzten zehn Jahren zugenommen, zum anderen zeigen die vorgestellten Maßnahmen und Projekte, dass die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen inzwischen ein wertvoller und selbstverständlicher Aspekt im Recruiting ist. Dennoch lässt sich mit Blick auf die Unternehmensgrößen erkennen, dass in kleinen und mittelständischen Unternehmen die Strukturen für eine strategische Umsetzung von Inklusion oftmals nicht gegeben sind.

Das UnternehmensForum als Austauschplattform

Unternehmen, die Inklusion erfolgreich betreiben, wissen, dass sie bei aller betrieblichen Individualität am effektivsten von den guten Erfahrungen anderer profitieren. Gemeinsam Inklusion in Unternehmen umsetzen – dafür macht sich das UnternehmensForum stark. Das Netzwerk von nahezu 40 Unternehmen versteht sich als Forum für die Entwicklung von Ideen, aber auch als Plattform für den Austausch von guten Beispielen aus der Praxis. Als Expert:innen-Forum dient es zudem als Ansprechstelle für Verbände und Politik, wenn es um die Weiterentwicklung rechtlicher Grundlagen geht. In Arbeitsgruppen wird die inhaltliche Aufstellung zu unterschiedlichsten Fragestellungen vorangebracht. Die Erstellung von Leitfäden und Orientierungshilfen für Unternehmen stehen dabei im Mittelpunkt.

Inklusion und Innovation 

Das Potenzial ist gewaltig. In Deutschland leben laut Statistischem Bundesamt inzwischen rund 10 Millionen Menschen mit Behinderung. Dahinter verbergen sich potenzielle neue Beschäftigte, aber auch Kundengruppen. Inklusiv zu denken, bedeutet kreativ mit Herausforderungen umzugehen, über den Tellerrand zu schauen und Dinge einfach auszuprobieren. Studien zeigen, dass diverse und inklusive Teams Unternehmen erfolgreicher machen können. Denn: Vielfalt im Team geht einher mit verschiedenen Perspektiven, Erfahrungen und Kompetenzen. Das fördert den Austausch und bringt neue Ideen und Innovationen voran.

"Es gibt inzwischen unzählige Beispiele, wie die Entwicklung von Lösungen zum Ausbau von Barrierefreiheit Innovationen hervorbringt – ob Gebärdensprach-Avatar oder KI-Anwendungen für Leichte Sprache: Was von allen nutzbar ist, ist in der Regel für alle profitabel."  

– Olaf Guttzeit

Versteht man Inklusion als Kulturbegriff, werden wertschätzendes Miteinander und die Stärkenorientierung zur Selbstverständlichkeit. Basis dafür muss die Zugänglichkeit sein. Zugänglichkeit zu Informationen, z.B. im Sinne digitaler Barrierefreiheit oder einer verständlichen Sprache, Zugänglichkeit zu Gebäuden und Arbeitsplätzen durch physische Barrierefreiheit. Das Feld ist weit.

Es gibt inzwischen unzählige Beispiele, wie die Entwicklung von Lösungen zum Ausbau von Barrierefreiheit Innovationen hervorbringt – ob Gebärdensprach-Avatar oder KI-Anwendungen für Leichte Sprache: Was von allen nutzbar ist, ist in der Regel für alle profitabel.

Ausblick

Die demografische Entwicklung zeigt schon heute, dass die Anstrengungen zur Gewinnung und Sicherung von Fachkräften nicht nachlassen dürfen. Gleichzeitig ist in einer Gesellschaft mit längerer Lebensarbeitszeit damit zu rechnen, dass der Anteil der Beschäftigten mit Behinderungen steigt. Denn über 90 % der Behinderungen werden während des Arbeitslebens erworben. Inklusion muss daher immer selbstverständlicher werden. Es braucht kontinuierlicher Sensibilisierung und Schulung sowie spezifisches Know-how, damit Ausbildung, Beschäftigung und Weiterbeschäftigung von Menschen mit Teilhabebedarf im betrieblichen Alltag erfolgreich gelingt.

Last but not least bedarf es guter Unterstützung. Ob Sozialversicherungsträger, einheitliche Ansprechstellen für Unternehmen und Firmenservice – Inklusion ist eine Aufgabe mit vielen Akteur:innen. Hier ist das Unterstützungsangebot im föderal gegliederten System ein unverzichtbarer Partner.

Inklusion ist kein Sprint, sondern eine Reise. Manchmal gibt es steile Wegstrecken, die sehr anstrengend sind, manchmal kann man einen schönen Ausblick genießen. Die Reise gemeinsam zu machen, ist ein Gewinn.

Über den Autor

Olaf Guttzeit ist Vorstandsvorsitzender der branchenübergreifenden Kooperation "UnternehmensForum". Dort vertritt er seit 2005 Boehringer Ingelheim, wo er u.a. das Thema Inklusion führt und Personalstrategien entwickelt. Guttzeit ist außerdem Inklusionsbeauftragter für die deutschen Standorte des Konzerns und war Initiator des ersten Aktionsplanes von Unternehmen zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention bei Boehringer Ingelheim.  

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Inklusion in der Schiedsgerichtsbarkeit
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