ICC Germany: Welche Erkenntnisse haben Sie hinsichtlich der 6.000 Nutzungen gewonnen?
Dr. Christoph von Burgsdorff (Luther): Die Statistiken zeigen weiterhin, dass die große Mehrheit nicht die richtige Vorstellung davon hat, welche Incoterms® 2020-Klausel ihren Interessen gerecht wird. Nur ca. 18 % der Nutzerinnen und Nutzer kennen die für sie passende Klausel (siehe Abb. 1). Es kann hier zu einem Widerspruch zwischen dem, was die Vertragspartner wollen, und dem, was die Incoterms® 2020-Klauseln tatsächlich beinhalten, kommen. Die Ergebnisse legen dar, dass häufig auf dieselben Klauseln zurückgegriffen wird und andere Klauseln, insbesondere die neue Klausel DPU („Delivered at Place Unloaded“), ignoriert werden oder nicht bekannt sind.
Oliver Wieck (ICC Germany): Die Zahl der Nutzungen zeigt, dass das Bewusstsein für die Bedeutung und die Auswirkungen der Incoterms® 2020-Klauseln deutlich gestiegen sind. Das ist genau das Ziel, das wir mit der Veröffentlichung des Digital Guide erreichen wollen: Wir möchten das Bewusstsein der Nutzerinnen und Nutzer bei der Anwendung der Incoterms® schärfen, bei der Auswahl genau hinzuschauen und sämtliche Vorteile und Facetten der Incoterms® 2020 zu kennen und zu nutzen. Dazu leistet der Digital Guide einen maßgeblichen Beitrag, wenn auch nur einen ersten indikativen Schritt. Darüber hinaus arbeiten ICC Germany und das Expertenteam der Luther Rechtsanwaltsgesellschaft derzeit an vielseitigen digitalen Lösungen für Unternehmen, z.B. zum Einsatz bei internen Schulungsmaßnahmen, bei der Vertragsgestaltung und bei internationalen Vertragsverhandlungen.
ICC Germany: Welche Incoterms® werden am häufigsten empfohlen und warum?
Robert Burkert (Luther): In den meisten Fällen empfiehlt der Digital Guide die Incoterms® 2020-Klausel FCA (Free Carrier) sowie die drei sog. D-Klauseln DPU, DAP und DDP. Dies ist nicht überraschend, wenn man die Praxis kennt. In den meisten Fällen einigen sich die Vertragsparteien darauf, dass der Lieferort entweder bei dem Käufer oder bei dem Verkäufer gelegen sein soll. Gerade in diesen Konstellationen sind die empfohlenen Klauseln häufig die richtigen. Vor dem Hintergrund, dass die meisten Nutzerinnen und Nutzer einen grenzüberschreitenden Transport anstreben, ergibt es Sinn, dass die Incoterms® 2020-Klausel EXW nicht so häufig empfohlen wird. EXW ist für den grenzüberschreitenden Handel in der Regel nicht zuletzt aufgrund steuer- und zollrechtlicher Gesichtspunkte ungeeignet.
Spannend ist insbesondere die Erkenntnis, dass auch die mit den Incoterms® 2020 neu eingeführte Klausel DPU („Delivered at Place Unloaded“) unter den drei meist empfohlenen Klauseln ist. Bei der Überarbeitung der Incoterms® war es das Ziel der ICC Working Group, die Klausel DAT („Delivered at Terminal“), die auf Lieferung an ein Terminal abzielt, flexibler zu gestalten. DPU ermöglicht seitdem jeden benannten Bestimmungsort und schließt alle Transportwege sowie mehrere Transportmittel ein. Entsprechend häufig ist die DPU-Klausel zu empfehlen, was auch die Nutzerstatistik zeigt.
ICC Germany: Wie erklären Sie sich die hohe Empfehlungszahl der neuen Incoterms® - Klausel DPU?
Oliver Wieck (ICC Germany): Gegenüber der vorherigen Incoterms®-Klausel DAT bietet DPU den großen Vorteil, dass der Bestimmungsort der Lieferung nun ein beliebiger Ort sein kann und kein Terminal sein muss. Der Verkäufer kann den Transport nun vollständig mit eigenen Transportmitteln und -leuten organisieren, ohne dass es eines Terminals, eines Terminalbetreibers oder einer komplexen Anpassung der vertraglichen Regelungen bedarf. DPU ist dadurch in der Praxis einfacher zu verwenden und bietet den Vertragspartnern mehr Flexibilität und Gestaltungsmöglichkeiten, um Kosten und Aufwand zu sparen.
Vorzugswürdig ist die Incoterms®-Klausel DPU insbesondere für alle Verkäufer bei grenzüberschreitenden Geschäften, da die Einfuhrfreimachung Pflicht des Käufers bleibt. Vor allem in dieser Konstellation ist die Incoterms®-Klausel DDP häufig ungeeignet, da dem Verkäufer die Einfuhrfreimachung ohne Registrierung im jeweiligen Einfuhrland häufig nicht, oder nur mit großem Mehraufwand, möglich ist.
Für Käufer ist die Incoterms® 2020-Klausel DPU ebenfalls häufig vorteilhaft, da der Verkäufer – anders als bei den Klauseln DDP und DAP – auch die Entladung schuldet und bis zur vollständigen Entladung die Gefahr für die Ware trägt.
ICC Germany: Die Nutzerdaten zeigen allerdings, dass Nutzerinnen und Nutzer die Incoterms® 2020-Klausel DPU bisher noch nicht flächendeckend anwenden. Woran liegt das?
Dr. Christoph von Burgsdorff (Luther): Die Gründe hierfür sind nach unserer langjährigen Erfahrung meist historisch gewachsen. Häufig vereinbaren Käufer eine Lieferung gemäß der Incoterms® 2020-Klausel DDP, da sie diese Klausel als „Maximalverpflichtung“ des Verkäufers kennen. Verkäufer, die sich nicht mit den Incoterms®-Klauseln auskennen oder nur wenig Verhandlungsspielraum haben, akzeptieren diese Vorgaben des Vertragspartners. Dass die Verwendung der DDP-Klausel sowohl grenzüberschreitend als auch inländisch häufig nicht vorteilhaft ist, ist den Vertragspartnern oft nicht bewusst. Eine tatsächliche – von den Parteien meist als aufwändig wahrgenommene – Prüfung der zu den Interessen der Vertragspartner passenden Incoterms® 2020-Klausel erfolgt vielfach nicht.
Dr. Christoph von Burgsdorff, LL.M.
ist Partner & Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht bei der Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH.
Robert Burkert
ist Rechtsanwalt bei der Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH.
Oliver Wieck
ist Generalsekretär von ICC Germany.
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