Interview mit Luther & ICC Germany 

Zwei Jahre Incoterms® 2020 Digital Guide:

Erfahrungen & Trends

Um Unternehmen die Auswahl der richtigen Incoterms® 2020-Klausel zu erleichtern, haben die ICC, ICC Germany und die Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH gemeinsam ein digitales, interaktives Tool entwickelt, das anhand der Antworten auf einige wenige Fragen einen ersten personalisierten Vorschlag für eine geeignete Incoterms® 2020-Klausel macht. Der Incoterms® 2020 Digital Guide (nachfolgend auch „Digital Guide“) wurde im Dezember 2021 vorgestellt und ist in einer Standardvariante kostenfrei für Unternehmen in deutscher und englischer Sprache verfügbar. Wir haben nachgefragt, welche Erkenntnisse in den ersten zwei Jahren des Incoterms® 2020 Digital Guide gewonnen werden konnten.

ICC Germany: Vor fast zwei Jahren wurde der Incoterms® 2020 Digital Guide veröffentlicht. Zunächst einige Fragen zur Statistik. Wie viele Zugriffe gab es seitdem? Wer nutzt den Guide eigentlich und welche Transportmodalitäten werden am häufigsten nachgefragt?

Dr. Christoph von Burgsdorff (Luther): Im September 2023 haben wir die Marke von 6.000 Empfehlungen in Deutschland erreicht. Die Zahlen zeigen uns, dass Unternehmen weiterhin großen Bedarf haben, sich eine Einschätzung geben zu lassen. Zahlreiche Unternehmen aller Größen und aus verschiedenen Branchen nutzen den Digital Guide weiterhin täglich. Den Ergebnissen ist allerdings auch zu entnehmen, dass viele Nutzerinnen und Nutzer unsicher sind und in der Anwendung häufig eine unpassende Klausel wählen. 

Die Statistik zeigt insgesamt ein besonders großes Interesse von Verkäufern, die gut drei Viertel der Nutzerinnen und Nutzer des Incoterms® 2020 Digital Guide ausmachen. Die meisten Anfragen betreffen multimodale Transporte (69 %). Spannend ist, dass die Auswahl der passenden Klausel insbesondere dann für die Vertragspartner eine große Rolle spielt, wenn die Lieferung über eine EU-Außengrenze (34 %) oder gänzlich außerhalb der EU erfolgt (31 %). Dies haben knapp 4.000 der bisherigen Nutzerinnen und Nutzer angegeben. 

ICC Germany: Welche Erkenntnisse haben Sie hinsichtlich der 6.000 Nutzungen gewonnen?

Dr. Christoph von Burgsdorff (Luther): Die Statistiken zeigen weiterhin, dass die große Mehrheit nicht die richtige Vorstellung davon hat, welche Incoterms® 2020-Klausel ihren Interessen gerecht wird. Nur ca. 18 % der Nutzerinnen und Nutzer kennen die für sie passende Klausel (siehe Abb. 1). Es kann hier zu einem Widerspruch zwischen dem, was die Vertragspartner wollen, und dem, was die Incoterms® 2020-Klauseln tatsächlich beinhalten, kommen. Die Ergebnisse legen dar, dass häufig auf dieselben Klauseln zurückgegriffen wird und andere Klauseln, insbesondere die neue Klausel DPU („Delivered at Place Unloaded“), ignoriert werden oder nicht bekannt sind.

Abb. 1: „Welche Incoterms® 2020-Regel hatten Sie ursprünglich avisiert?“ Angaben im Rahmen von 6.028 Zugriffen im Zeitraum von Dez. 2021-Sept. 2023.


Oliver Wieck (ICC Germany): Die Zahl der Nutzungen zeigt, dass das Bewusstsein für die Bedeutung und die Auswirkungen der Incoterms® 2020-Klauseln deutlich gestiegen sind. Das ist genau das Ziel, das wir mit der Veröffentlichung des Digital Guide erreichen wollen: Wir möchten das Bewusstsein der Nutzerinnen und Nutzer bei der Anwendung der Incoterms® schärfen, bei der Auswahl genau hinzuschauen und sämtliche Vorteile und Facetten der Incoterms® 2020 zu kennen und zu nutzen. Dazu leistet der Digital Guide einen maßgeblichen Beitrag, wenn auch nur einen ersten indikativen Schritt. Darüber hinaus arbeiten ICC Germany und das Expertenteam der Luther Rechtsanwaltsgesellschaft derzeit an vielseitigen digitalen Lösungen für Unternehmen, z.B. zum Einsatz bei internen Schulungsmaßnahmen, bei der Vertragsgestaltung und bei internationalen Vertragsverhandlungen.

ICC Germany: Welche Incoterms® werden am häufigsten empfohlen und warum? 

Robert Burkert (Luther): In den meisten Fällen empfiehlt der Digital Guide die Incoterms® 2020-Klausel FCA (Free Carrier) sowie die drei sog. D-Klauseln DPU, DAP und DDP. Dies ist nicht überraschend, wenn man die Praxis kennt. In den meisten Fällen einigen sich die Vertragsparteien darauf, dass der Lieferort entweder bei dem Käufer oder bei dem Verkäufer gelegen sein soll. Gerade in diesen Konstellationen sind die empfohlenen Klauseln häufig die richtigen. Vor dem Hintergrund, dass die meisten Nutzerinnen und Nutzer einen grenzüberschreitenden Transport anstreben, ergibt es Sinn, dass die Incoterms® 2020-Klausel EXW nicht so häufig empfohlen wird. EXW ist für den grenzüberschreitenden Handel in der Regel nicht zuletzt aufgrund steuer- und zollrechtlicher Gesichtspunkte ungeeignet. 

Spannend ist insbesondere die Erkenntnis, dass auch die mit den Incoterms® 2020 neu eingeführte Klausel DPU („Delivered at Place Unloaded“) unter den drei meist empfohlenen Klauseln ist. Bei der Überarbeitung der Incoterms® war es das Ziel der ICC Working Group, die Klausel DAT („Delivered at Terminal“), die auf Lieferung an ein Terminal abzielt, flexibler zu gestalten. DPU ermöglicht seitdem jeden benannten Bestimmungsort und schließt alle Transportwege sowie mehrere Transportmittel ein. Entsprechend häufig ist die DPU-Klausel zu empfehlen, was auch die Nutzerstatistik zeigt.

Abb. 2: Ranking der empfohlenen Incoterms® des Digital Guides anhand von 6.028 Zugriffen im Zeitraum von Dez.2021-Sept.2023

ICC Germany: Wie erklären Sie sich die hohe Empfehlungszahl der neuen Incoterms® - Klausel DPU? 

Oliver Wieck (ICC Germany): Gegenüber der vorherigen Incoterms®-Klausel DAT bietet DPU den großen Vorteil, dass der Bestimmungsort der Lieferung nun ein beliebiger Ort sein kann und kein Terminal sein muss. Der Verkäufer kann den Transport nun vollständig mit eigenen Transportmitteln und -leuten organisieren, ohne dass es eines Terminals, eines Terminalbetreibers oder einer komplexen Anpassung der vertraglichen Regelungen bedarf. DPU ist dadurch in der Praxis einfacher zu verwenden und bietet den Vertragspartnern mehr Flexibilität und Gestaltungsmöglichkeiten, um Kosten und Aufwand zu sparen. 

Vorzugswürdig ist die Incoterms®-Klausel DPU insbesondere für alle Verkäufer bei grenzüberschreitenden Geschäften, da die Einfuhrfreimachung Pflicht des Käufers bleibt. Vor allem in dieser Konstellation ist die Incoterms®-Klausel DDP häufig ungeeignet, da dem Verkäufer die Einfuhrfreimachung ohne Registrierung im jeweiligen Einfuhrland häufig nicht, oder nur mit großem Mehraufwand, möglich ist.

Für Käufer ist die Incoterms® 2020-Klausel DPU ebenfalls häufig vorteilhaft, da der Verkäufer – anders als bei den Klauseln DDP und DAP – auch die Entladung schuldet und bis zur vollständigen Entladung die Gefahr für die Ware trägt

​Abb. 3: Auszug Regelwerk Incoterms® 2020 D-ENG, Klausel DPU (Delivered at Place Unloaded)

ICC Germany: Die Nutzerdaten zeigen allerdings, dass Nutzerinnen und Nutzer die Incoterms® 2020-Klausel DPU bisher noch nicht flächendeckend anwenden. Woran liegt das?

Dr. Christoph von Burgsdorff (Luther): Die Gründe hierfür sind nach unserer langjährigen Erfahrung meist historisch gewachsen. Häufig vereinbaren Käufer eine Lieferung gemäß der Incoterms® 2020-Klausel DDP, da sie diese Klausel als „Maximalverpflichtung“ des Verkäufers kennen. Verkäufer, die sich nicht mit den Incoterms®-Klauseln auskennen oder nur wenig Verhandlungsspielraum haben, akzeptieren diese Vorgaben des Vertragspartners. Dass die Verwendung der DDP-Klausel sowohl grenzüberschreitend als auch inländisch häufig nicht vorteilhaft ist, ist den Vertragspartnern oft nicht bewusst. Eine tatsächliche – von den Parteien meist als aufwändig wahrgenommene – Prüfung der zu den Interessen der Vertragspartner passenden Incoterms® 2020-Klausel erfolgt vielfach nicht.

Robert Burkert (Luther): Auch wenn die Parteien die passende Klausel identifizieren wollen, endet die Recherche häufig in einer Google-Suche. Nicht selten greifen Käufer oder Verkäufer auf unvollständige, veraltete oder sogar unrichtige Informationen von Drittanbietern zurück, anstatt sich mit den elf zur Verfügung stehenden Incoterms® 2020-Klauseln auseinanderzusetzen. Insbesondere hier kann der Digital Guide wertvolle Unterstützung bieten.

Trotz der zahlreichen Vorteile der neuen DPU-Klausel kommt es daher in der Praxis aufgrund eingefahrener Strukturen zwischen den Vertragspartnern und Unkenntnis der Unternehmen häufig dazu, dass die Vertragspartner die Incoterms® 2020-Klausel DPU „übersehen“.

ICC Germany: Ist bereits absehbar, welche Rolle künstliche Intelligenz bei der Verwendung von Incoterms® spielt oder spielen wird?

Oliver Wieck (ICC Germany): Vom Einsatz von offenen KI-Lösungen wie ChatGPT für Incoterms® raten wir derzeit ganz klar ab. Bisher frei verfügbare KI-Lösungen sind nicht geeignet, rechtssichere Empfehlungen auszusprechen oder konkrete Vertragsklauseln zu generieren. Um die passende Klausel zu finden und den Vertrag entsprechend anzupassen, sind zahlreiche Einzelheiten des Sachverhalts, die Interessen der Vertragspartner und die Wechselwirkungen der unterschiedlichen Vertragsklauseln zu berücksichtigen. Dies können offene KI-Lösungen derzeit nicht leisten. Die KI stützt ihr Ergebnis auf frei verfügbare Daten aus dem Internet, also auf die bereits erwähnten unvollständigen, veralteten und teils unrichtigen Informationen von Drittanbietern. Zum Beispiel empfiehlt die KI – wider besseres Wissen – häufig die EXW-Klausel, obwohl diese in den meisten Fällen ungeeignet ist und erhebliche Risiken für die Vertragspartner bergen kann. Demgegenüber liefert der Digital Guide den Nutzerinnen und Nutzern eine individualisierte erste Empfehlung und bietet bei Fragen einen direkten Kontakt zu den richtigen Ansprechpartnern.

Nichtsdestotrotz prüfen wir derzeit, ob eine KI-Lösung auf der richtigen Datenbasis, also nicht auf Basis ungefilterter, frei zugänglicher und veränderbarer Informationen aus dem Internet, und durch weiteren Input von den Incoterms®-Experten einen Mehrwert bei der Auswahl der passenden Incoterms® 2020-Klausel bieten kann. Derzeit empfiehlt ICC Germany allerdings ausdrücklich, den von den Expertinnen und Experten der ICC und Luther erstellten Digital Guide zu nutzen, um Fehler in der Anwendung zu vermeiden.

ICC Germany: Herzlichen Dank!

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Dr. Christoph von Burgsdorff, LL.M.

ist Partner & Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht bei der Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH.

Robert Burkert

ist Rechtsanwalt bei der Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH. 

Oliver Wieck

ist Generalsekretär von ICC Germany.

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